Martha im Gepaeck
sich ein. »Waren sie nicht. Sonst hätten sie Rob Roy ja nicht fangen können. Aber später ist er dann wieder nach Hause gekommen. Nur Mike wollte er dann nicht mehr genannt werden. Und auf jeden Fall«, sie warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, »ist dieser Rob Roy schon lange tot.«
Ein Lächeln umspielte Marthas Lippen. »Aber seine Nachfahren leben noch. Überall auf der Welt. Sogar in Amerika.«
»Bei McDonald’s.« Mark jauchzte vor Freude.
»Mark, jetzt legst du mal das Handy weg. Es reicht jetzt. Um dich herum ist die schönste Natur, und du starrst nur in den kleinen Kasten. Wir kommen jetzt zu einem der malerischsten Wasserfälle des Tales.« Bernd bog von der Hauptstraße ab. Er fuhr einen kleinen Weg entlang und parkte das Auto. »Bisschen Beine vertreten tut uns allen gut.«
Zwanzig Minuten später standen sie vor dem Wasserfall. Obwohl ihnen eine Menge Autos entgegengekommen waren, herrschte hier Stille. Nur das Rauschen des Wasserfalls und das Summen einiger Insekten waren zu hören. Weißes schäumendes Wasser fiel wie Hexenhaar über schwarze Felsen. Krüppelige kleine Bäume wichen davor zurück und drängten sich an den trockenen braunen Boden. Am Horizont thronte der schneebedeckte Gipfel des Ben Nevis.
»Wunderschön«, sagte Karen. Sie stand neben Bernd, fröstelte ein bisschen und kuschelte sich an ihn. Hier oben wehte ein kühler Wind. Genau danach hatte Karen sich in den letzten Wochen gesehnt, als sie verschwitzt hinter ihrem Schreibtisch gehockt hatte, gefangen in den stickigen Eingeweiden ihres Büros – der kaputten Klimaanlage sowie der Beschränktheit von Dr. Albrecht gnadenlos ausgesetzt. Hier herrschte Ruhe und Frieden.
Die spröde Schönheit Schottlands zwang alle in die Knie. Selbst Mark, der hinter ihnen stand. Er flüsterte gerade: »Wahnsinn.«
»Nicht wahr?« Karen drehte sich glücklich um.
Ihr Blick blieb an ihrem Sohn hängen. Er guckte überhaupt nicht zum Wasserfall, sondern starrte schon wieder auf sein Handy.
»Wahnsinn«, flüsterte Mark wieder. »Jetzt weiß ich’s. Du hast dich unter den Tisch sinken lassen, stimmt’s, Tante Martha? Und die Säge ist oben durch einen falschen Bauch durchgeflutscht. Deswegen hast du so ein komisches Gewand angehabt. Ein Fake! Natürlich, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen?«
19 Fort Augustus lag hinter ihnen, und nun führte die Straße mehr oder weniger am Loch Ness entlang. Karen hatte das Handy wieder konfisziert und suchte nach einer schönen Aussichtsplattform. Sie würden aussteigen, den See fotografieren, mehrmals »Hallo, Nessie!« rufen, traurig und enttäuscht gucken, weil sie sich nicht blicken ließ, und dann wieder zurück nach Fort Augustus und auf der anderen Seite rüber nach Speyside fahren. Zum Hotel. Zur Dusche.
Die Thiemes wussten mittlerweile alles über zersägte Jungfrauen oder Senioren, was man wissen konnte. Nachdem Martha begriffen hatte, dass Lysanders großer Trick inzwischen per Mausklick jedem auf der Welt zugänglich war, hatte sie angefangen, aus dem Nähkästchen zu plaudern, und erst aufgehört, als Mark sie immer dringlicher bat, das Ganze doch im Hotel oder zu Hause noch einmal nachzustellen.
»Wenn ich das vor Tommy und den Luschen aus unserer Klasse zeige, drehen die durch. Wir müssen das ja auch nicht live machen, Tante Martha. Wir könnten es aufnehmen und dich auf YouTube reinstellen. Dann wirst du berühmt. Vielleicht entdeckt uns jemand. Ich könnte dein Zauberlehrling sein, wie findest du das?«
»Wo soll ich mich hinstellen?«, fragte Martha.
»Ins Internet. Dann können dich alle sehen, selbst Leute in Sibirien oder Indien.«
»Bloß nicht.« Martha schüttelte entsetzt den Kopf. »Am Ende macht das noch jemand nach und sägt sich ins Bein, und ich bin dran schuld. Außerdem muss man das sehr, sehr lange üben.«
»Da«, rief Karen unvermittelt. »Da kannst du mal anhalten.«
Und in der Tat befand sich am Straßenrand eine wunderbare Ausbuchtung mit Geländer, wie geschaffen, um auf Loch Ness hinunterzublicken. Und auch völlig einsam, nicht so überfüllt wie weiter vorn am See, wo sich eine ganze Ladung weißer Lieferwagen auf einem Parkplatz drängte. Dort herrschte ein Trubel wie auf dem Jahrmarkt.
Bernd nahm den Objektivdeckel von seiner Kamera. Er zwinkerte Teresa zu. »Nessie?«, rief er in den späten Nachmittag hinein. »Zeig dich!«
»Was für ein riesiger See«, bemerkte Karen. »Man kann sich durchaus vorstellen, dass so ein Vieh darin
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