Martha im Gepaeck
kennengelernt hatten. Im Stau. Stundenlang schlichen sie damals in ihren beiden Autos auf der A 3 nebeneinanderher und schielten immer wieder heimlich zu dem anderen hinüber. Dann kam der Verkehr völlig zum Erliegen, und Bernd stieg auf einmal aus seinem Wagen aus und klopfte an ihr Fenster. Von diesem Bernd-Blick hatte sie damals nächtelang geträumt. Und jetzt war dieser Blick auf einmal wieder da, hatte die Streitereien der letzten Jahre um Geld, Haushalt und Kindererziehung überlebt und verjüngte Bernd innerhalb von Sekunden.
Spontan beschloss sie, heute Abend zur Whiskyverkostung das teure Kleid wieder herauszuholen, das sie auf der Fahrt gegen praktische Shorts eingetauscht hatte. Man musste schließlich zeigen, was man hatte.
Noch hatte.
20 »So«, meinte Bernd geschäftig. »Im Prinzip können wir jetzt gleich rüber nach Speyside düsen. In einer Stunde sind wir dort. Von mir aus können wir sogar noch schnell zu diesem, äh, Glen Manor fahren, das liegt nur 20 Meilen von unserem Hotel entfernt. Damit wären wir die Meerjungfrau heute noch los. Okay?«
Karen antwortete nicht, sie stand immer noch neben Teresa und sah wie gebannt auf das sich kräuselnde Wasser. Es roch nach Sommer und See, Mücken summten, irgendwo weit oben am Himmel brummte ein Flugzeug. Eigentlich war Karen gerade egal, wann und wo sie heute ankamen. Sie hätte jetzt stundenlang hier stehen bleiben können, die Nachmittagssonne im Gesicht, dieses unergründliche Gewässer vor der Nase, Teresas kleine Hand, die immer noch aufgeregt Karens Finger zerquetschte, in ihrer. Es war einer dieser Momente, die man eigentlich in Flaschen hätte abfüllen müssen, um sie an kalten, grauen Novembertagen wieder öffnen und sich minutenlang in ein Sommerparadies zurückversetzen zu können. Einzig störend waren Mark, der mit Wucht kleine Steine in den See schmiss und dabei vor sich hin grummelte, und Bernd, der zum Aufbruch drängelte.
»Dann also jetzt gleich zum Glen Manor, ja?«, wiederholte er ungeduldig, wartete ihre Antwort allerdings gar nicht ab, sondern stieg ins Auto und startete den Motor.
»Lass mal«, meldete sich Martha auf einmal. »Eigentlich reicht es auch, wenn wir morgen zum Glen Manor fahren. Oder übermorgen.«
Mit einem Gurgeln erstarb der Motor wieder. »Was?«, fragte Bernd entgeistert.
Martha wühlte in ihrer Handtasche, als ob sie ganz dringend etwas suchte. »Ich sagte, wir müssen nicht sofort dahin. Es reicht auch, wenn wir in ein paar Tagen zum Glen Manor fahren.«
»Aber die ganze Zeit hast du von nichts anderem geredet. Es konnte dir doch gar nicht schnell genug gehen.« Bernd schüttelte den Kopf.
»Ich habe eben meine Meinung geändert.«
Täuschte Karen sich, oder hatte Martha rote Flecken am Hals bekommen? Sie wirkte plötzlich so fahrig, fast nervös. Fast, als ob sie … Angst hätte? Was war hier los? Karen berührte die alte Frau sanft am Arm. »Martha, magst du mir nicht endlich erzählen, warum wir eigentlich dahin müssen? Vielleicht können wir dann gemeinsam entscheiden, wann der günstigste Zeitpunkt ist?«
»Nein«, erwiderte Martha sofort. »Das ist meine Sache.« Sie hörte auf, in der Tasche herumzukramen. »Wir können morgen hin. Das reicht immer noch. Dann kann ich noch eine Nacht lang drüber schlafen.«
»Worüber schlafen?« Bernd wirbelte den Autoschlüssel rasant am Finger herum. Jeden Moment würde er sich lösen und in den See fallen.
»Bernd«, Karen versuchte, Blickkontakt mit ihm herzustellen, aber er merkte es nicht. »Lass doch. Dann liefern wir die Holzfigur eben morgen ab. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an.« Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie Martha sich entspannte. Eigenartig, wirklich eigenartig. Die ganze Zeit hatte Karen angenommen, dass Martha in Glen Manor irgendwas Schönes vorzufinden hoffte, obwohl Karen beim besten Willen keine Vorstellung davon hatte, um was es sich dabei handeln könnte. Aber jetzt – jetzt schien es ihr beinahe, als wolle Martha sich davor drücken, diesen mysteriösen Ort aufzusuchen. Wartete dort etwas Unangenehmes auf sie? Aber was? Was um alles in der Welt konnte in einem Dorf in den Highlands lauern, das eine Rentnerin aus Köln in Schrecken versetzte?
»Verstehst du das jetzt?«, wandte Bernd sich an Mark. Offenbar hatte er entschieden, dass Marthas Sinneswandel eine weibliche Reaktion auf irgendetwas sein musste, das völlig unbemerkt an ihm und Mark vorbeigegangen war.
»Ich will mein
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