Martha's Kinder
Reiches Geschicke webt!
Zu diesem moralischen Ekel gesellte sich der physische. Die Burschen pafften an Virginia-Stummeln und spukten alle Augenblicke auf den Fußboden; wenn sie ihre Biergläser zu den Lippen führten, sah man wie ungewaschen ihre Hände und wie niemals geputzt ihre abgebissenen Nägel waren. – Glückliche Zustände, menschenwürdiges Dasein für alle? – Jawohl, das ist das Ziel, dazu gehört aber auch, daß würdige Menschen herangezogen werden – moralisch und physisch reine Menschen. Anders ausgedrückt: schön hat ein Geschlecht zu sein, das glücklich zu werden verdient – mehr noch: um glücklich werden zu können ... Aus solchen Gedanken wurde Rudolf durch ein lautes »Meine Herren« gerissen, das der Mann auf dem Ehrenplatz der Tafel, offenbar der Gefeierte des Abends, ausstieß, indem er mit dem Messer an sein Glas klopfte und sich erhob, zum Zeichen, daß er reden wolle.
»Bravo, bravo!« riefen die andern und verstummten dann mit erwartungsvollen Mienen.
»Meine Herren, oder vielmehr, meine Freunde (Bravo!), meine verehrten Kampfgenossen! Ich bin mir bewußt, voll und ganz bewußt, welche Pflichten mir mein Sieg, den ich Ihnen, den ich Ihrer Gesinnungstreue danke ... mein Sieg mir auferlegt und diese Pflichten, das gelobe ich ... will ich ausführen – unentwegt, voll und ganz (Bravo!). Ohne Furcht und ohne Scheu werde ich die Mängel aufdecken ... und die Halunken entlarven die – die abscheulichen Halunken, welche – welche –«
»Na ja, nieder mit die Juden!« kam einer dem Redner zu Hilfe.
»Ja – ich werde das Mandat unserer christlichen Bevölkerung hochhalten und zeigen, daß die verfolgten, zurückgesetzten Christen wieder ihre Rechte geltend machen ... und daß das urgemütliche, urehrliche und urlustige Wienertum ... das goldene Wienerherz – kurz unsere alten kaisertreuen, gottesfürchtigen und doch so kreuzfidelen Gesinnungen sich – wie soll ich sagen – von den Einflüssen der – oder vielmehr den Aufdringlichkeiten einer spekulativen Rasse von Parasiten mit voller Kraft – das heißt mit kraftvoller Entschiedenheit stets und immer und überall schützen, befreien, kurz –«
»Kurz davonjagen, die Juden«, resümierte wieder die Aushilfsstimme.
»Davonjagen, davonjagen«, riefen nun alle im Takt und applaudierten frenetisch.
Da hielt es Rudolf nicht länger aus. Er sprang auf und trat an den Tisch.
»Meine Herren« – seine Stimme klang fest – »auch ich bin ein Wiener Wähler und bin auch schon selber Kandidat gewesen – mein Name ist – doch der Name tut nichts zur Sache. Wollen Sie mir gestatten, ein Wort zu sagen?«
»Wer san mer denn?« »A schöner Herr.« – »Hoffentlich a Spezi.« – »No, so reden S'« tönte es von verschiedenen Seiten.
»Ich bin kein Spezi, wenn Sie darunter einen Gesinnungsgenossen verstehen. Aber da Sie« – er wandte sich an den Gefeierten – »im Abgeordnetenhaus auch Gegner finden werden, so werden Sie es wohl vertragen, daß einer Ihnen hier entgegentrete.« »Also a Liberaler, o je!« rief der Angeredete. »Aber nur heraus mit der Sprach.« Und er nahm eine parlamentarische Haltung an, indem er die Hand in den Westenausschnitt schob.
»Ein Liberaler?« wiederholte Rudolf. »Ich weiß nicht recht, was Sie unter dieser Bezeichnung verstehen. Einfach als Mensch möchte ich sagen, daß es im tiefsten Grade traurig ist, wenn eine Parole des Hasses und der Verfolgung den Ausgangs- und Zielpunkt einer politischen Aktion darstellt –«
»Oho«, rief jemand. »Se san wohl selber a Jud.«
»Zufällig nicht –«
»Nachher a Judenknecht, a bezahlter. Da haben's hier nix zu schaffen, in einer G'sellschaft von redliche Antisemiten. – Schauen's daß weiter kommen.«
Rudolf verschränkte die Arme. Er war totenbleich, aber nicht vor Angst, sondern vor innerer Empörung.
»Gut«, sagte er, »ich versetze mich einen Augenblick an Ihre Stelle. Sie sind Antisemiten. Der Titel ist ja sehr gut getragen. Nicht nur unter einfachen Bürgersleuten wie Sie, auch in hohen und höchsten Kreisen ist die Sorte vertreten, und auch Gelehrte und Professoren verteidigen diese Anschauung von allerlei ethnographischen und nationalökonomischen Standpunkten, aber Sie, Sie bringen, wie ich sehe, nur ihr Temperament mit – nur so ein Stückchen gesunden Haß und Verachtung – bitte sagen Sie mir also, wie wollen Sie Ihr Programm ausführen? Was soll denn mit den Juden geschehen?«
»Was mit ihnen g'schehen soll? Nach Palästina
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