Martha's Kinder
unnütz. Beugen Sie sich nicht jener bequemen Ansicht, daß sich die Kulturwandlungen von selber vollziehen. Das ist falsch – nichts geschieht von selbst. Er fällt doch niemandem ein, zu behaupten, daß sich alle technischen Fortschritte und Erfindungen von selber eingestellt hätten – unabhängig vom Studium und der Arbeit der Techniker und Erfinder. Daß studiert und daß gearbeitet wird, mag auf einen Zwang, der in den Naturvorgängen liegt, zurückgeführt werden, das will aber nicht besagen, daß die Kulturarbeit von selbst entsteht. Sie entsteht durch den Willen der Kulturarbeiter ... Diese Willenskraft mag man auch eine Naturkraft nennen – aber dieser persönliche Wille wird zum Motor der Entwicklung. Auch unter den Entwicklungsfeinden gibt es energisch Wollende und es gelingt ihnen gar wohl, den Gang der Kultur zu hemmen, sogar momentan zurückzuschleudern ... ihn aber gänzlich aufzuhalten, das gelingt ihnen nicht, denn daß dieser – wenn auch in der Spirallinie – unaufhörlich vorwärts und aufwärts führt: das ist Naturgesetz. Dies ist mein zuversichtlicher Glaube. Ein heißer Glaube, der mich oft mit einem Glücksgefühl durchströmt, mitten unter den Zorngefühlen, die mir die herrschenden Verkehrtheiten einflößen. Wenn ich auch weiß, daß Zorn eine unwissenschaftliche Regung ist – ärgert sich der Zoologe über Tigerbosheit und Schlangengift? – so ist er doch auch eine nützliche Regung, denn er rüttelt zur Abwehr auf ... Ohne Leidenschaft wird nichts Kräftiges vollbracht.
Das ist's auch, was ich Ihnen sagen wollte – mein Tun ist durch eine in tiefster Seele lodernde Leidenschaft bestimmt ... Ob ich Kräftiges vollbringen werde, das ist dahingestellt, aber was ich an Kraft besitze, das ist nun in meinem Willen konzentriert.«
Er hielt einen Augenblick inne. Wieder empfand er es deutlich, daß die Zuhörerschaft – mit Ausnahme der wenigen – ihm nicht gefolgt war.
Und er gewahrte auch, daß ihm die Worte nicht zu Gebote standen, mit denen er gern die Fülle der ihn bewegenden leidenschaftlichen Gefühle und Gedanken ausgedrückt hätte. Das wäre ihm wohl nur möglich gewesen, wenn von seinem Feuer etwas auf die Widerstrebenden sich übertragen hätte und aus ihrer Mitte dann ein Funke der Begeisterung herübergesprungen wäre ... Er hatte die Vision eines großen Saales, gefüllt mit Männern und Frauen aus dem Volke; Leute, die in ihren gramgedrückten Verhältnissen mit Sehnsucht nach Verheißungen besserer Zeiten aufhorchten: wie würde der Dank und die Hoffnung solcher Lauscher ihn gleichsam tragen, emporheben ... aber diese hier? – auf der Höhe der Gesellschaft geborenen, alle Vorteile des Bestehenden genießenden – die mußten wohl jeden Gedanken an eine Änderung als ruhegefährdend und glücksbedrohend empfinden – wenn sie überhaupt zuhörten, wenn das Gesagte nicht vollkommen abprallte an ihrem Unverständnis und ihrer Kälte.
Er ward sich bewußt, daß er nicht weiter reden sollte, noch konnte und suchte nach einem Schluß:
»Meine Freunde – Ihnen das Ziel meines Wollens ganz klar zu legen, oder gar meine Überzeugung auf Sie übertragen zu wollen – das konnte nicht der Zweck meiner Rede sein, die ohnehin schon zu lang geworden ist; ihr kurzer Sinn ist der: hier stehe ich, weil ich nicht anders kann. Und damit ist die Tafel aufgehoben – in Brunnhof die letzte Tafel, deren Wirt ich gewesen bin.« Er stand auf und erhob sein Glas: »Doch – damit wir mit einem »Hoch« abschließen können, trinke ich Dir noch einmal zu, lieber Max – »Dotzky, est mort, vive Dotzky!««
Die anderen waren froh, die etwas gelangweilte und mitunter peinliche Stimmung mit neuem Gläseranstoßen und Hochrufen verscheuchen zu können.
Dann begab man sich in den anstoßenden Empfangssaal. In den Gruppen, die sich bildeten, wurde natürlich von dem Ereignis des Tages gesprochen. Das Urteil über Rudolf lautete zwar nicht, wie er selber vorausgesagt, auf »Verrücktheit« – aber die ganze Skala von Worten, die denselben Sinn umkleiden, hielt dabei her: überspannt – Träumer – Irregeleitet – Phantast – hm, ein Original ..
XIX.
Rudolf stahl sich hinaus. Er war nicht aufgelegt, in Privatgesprächen den Gegenstand weiter auszuführen, über den er soeben eine Rede gehalten. Und ein eigentümliches Trauergefühl hatte sich seiner bemächtigt – etwas wie Abschiedsweh, das ihn drängte, sich von der heiteren Gesellschaft zu entfernen, und in einem einsamen Winkel
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