Marzipaneier (Junge Liebe)
Zehenspitzen. Das tut sie immer, wenn sie besonders freudig erregt ist.
„Hier, da sind sie! Schau sie dir an“, ruft sie etwa zehn Oktaven über ihrem eigentlichen Stimmpegel.
Sie ist völlig außer sich. Seltsam wie schlagartig zwei kleine Wesen eine erwachsene Frau aus der Fassung bringen können. Ich ringe mir ein kleines Lächeln ab. Gesehen habe ich allerdings noch nichts, Mum hat sich zu breit gemacht. Wenn sie ständig wild mit Händen und Armen gestikuliert, ist nun mal kein Vorbeikommen. Außerdem sind die Fensterscheiben teilweise beschlagen. Dad friert, das sieht man an seinen Ohren. Kunststück! Wenn man bei diesem Wetter lediglich ein ärmelloses T-Shirt und kurze Shorts trägt, muss man sich nicht wundern. Seine Ohren werden dann im Regelfall zuerst rot und gehen dann ins Blaue über. Ein Wunder, dass Mum das bei ihrer Bewunderung für die Zwillinge überhaupt registriert. Wir gehen zurück.
Bianka liegt auf Zimmer 37. Meine neue Unglückszahl von heute an, beschließe ich. Jay klopft an und wir stürmen hinein, alle auf einmal, als gäbe es da drin etwas umsonst. Das heißt, alle stürmen hinein, bis auf meine Wenigkeit. Das Tempo, mit dem ich mich beim Henker vorstelle, gebe ich immer noch selbst vor. Bianka liegt hinten am Fenster in einem Drei-Bett-Zimmer. Ihre Eltern und Ben haben sich schon breit gemacht. Links sitzt eine Frau in ihrem Bett, die gerade ihr Baby stillt. Die hat Brüste! Ihre großen, dunkelroten Brustwarzen sehen ekelerregend aus. Auf der rechten Seite steht ein leeres Bett. Die Frau, die darin schläft, muss draußen sein. Ihre Bettdecke ist aufgewühlt. Gegenüber Biankas Bett, neben der Balkontür, steht ein Tisch. Dazugehörige Stühle sind natürlich nur um ihr Bett verteilt. Mum geht auf Biankas Eltern zu und gratuliert ihnen. Oh nein! Dieses Gesülze habe ich auch noch vor mir und das am hellen Sonntagmorgen. Habt Erbarmen! Lustlos strecke ich allen meine Hand entgegen, murmle „Alles Gute“ und „Herzlichen Glückwunsch“ und hoffe, dass wir bald verschwinden können. Bianka ist müde. Das kommt mir äußerst gelegen.
„Dennis möchte die Babys sehen!“
Vielen herzlichen Dank Mum! Aber ich habe den Eindruck, du verwechselst da was. Was weißt du denn schon von meinen Wünschen und Sehnsüchten? Das zieht die ganze Sache doch nur unnötig in die Länge.
Ich soll allein mit Ben zum Schwesternzimmer gehen, um die Babys zu holen. Das hat mir gerade noch gefehlt. Mir ist schlecht. Vor einer Woche hätte ich Luftsprünge gemacht, mit ihm ungestört Zeit verbringen zu können. Ich sage, ich freue mich für ihn und gebe mich auf dem endlos langen Weg interessiert.
„Habt ihr schon Namen?“ Natürlich meine ich es nicht ernst. Ich bin heilfroh, wenn ich es endlich hinter mir habe. Ben legt seinen Arm freundschaftlich um meine Schultern. Auch das noch! Er spricht von Glück und Erfüllung. Ich will das nicht hören! Sei still! Das ist doch blanke Ironie. Warum fragt mich keiner, ob mir das nicht weh tut? Wann sind wir endlich da? Ich hoffe auf die Erlösung, da ich zu feige bin, seinen Arm von mir zu entfernen. Wo gehen wir denn hin? Es kommt mir vor, als spazierten wir im Kreis durch dieses Gebäude. Es dauert eine Ewigkeit. Immerhin weiß ich nun, dass die Namen der Zwillinge Tim und Kim sind.
Wir sind am Ziel. Na endlich! Ich sehe sie aus nächster Nähe. Die sind wirklich süß. Diese Miniaturfingerchen! Erstaunlich, Tim sieht Ben sehr ähnlich. Beide haben dunkles Haar. Die Babys scheinen mich anzustrahlen. Sie verzaubern mich auf der Stelle. Wie sich Kims Brustkorb gleichmäßig hebt und senkt! Ben sucht eine Schwester, um zu fragen, ob wir die Kinder mit aufs Zimmer nehmen dürfen.
„Seid ihr süß! Euer Vater ist toll. Gebt Acht auf ihn! Ich kann eure Mum nicht ausstehen, aber keine Sorge. Ich werde eure Familienidylle nicht zerstören. Ihr seid so unschuldig und habt zum Glück noch keine Ahnung wie miserabel es in der großen weiten Welt da draußen zugehen kann – und werd’ bloß nicht schwul, Tim“, flüstere ich ihnen zu, während Ben mit einem Zivi zurückkommt. Der Zivi hat nen netten Knackarsch.
„Sieht irgendwie schwul aus“, murmle ich Gedanken versunken. War wohl ein bisschen zu laut gedacht, Ben hat es gehört.
„Meinst du den Zivi? Kann sein, niedlich isser ja schon irgendwie.“
Hä? Hab ich mich verhört? Niedlich? Och Ben, wie kannst du nur! Ich bin doch schon durcheinander genug. Bist du nur tolerant oder doch bi, wie in meinen
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