Maschinenmann: Roman (German Edition)
Eine äußerst beunruhigende Vorstellung. Ohne die laufende Zufuhr der Kochsalzlösung aus dem Tropf wäre ich wahrscheinlich zu einem leeren Hautsack zusammengeschrumpft. Wie eine physikalische Rechenaufgabe aus der Schule. Wenn Charles Neumann ein Volumen von 80 Litern hat und mit einer Geschwindigkeit von 0,5 Litern pro Minute Körperflüssigkeiten ausscheidet, wie oft muss dann sein 0,4-Liter-Beutel mit Kochsalzlösung ausgetauscht werden? Dass ich so einfach auszurechnen war, empfand ich als Kränkung.
Bald kannten die Pflegekräfte meinen Stumpf in- und auswendig. Sie nahmen jede Gelegenheit wahr, das Laken zurückzuschlagen und an meinem Fleisch herumzuhantieren. »Er sieht fantastisch aus«, da waren sie sich einig. Vor allem Schwester Veronica. Schwester Veronica liebte meinen Stumpf über alles. Mit einem strahlenden Lächeln öffnete sie die Vorhänge, wechselte meine Beutel und versprach mir, dass ich schon bald in meine Tanzschuhe würde schlüpfen können. Mir war klar, worum es ihnen ging. Sie wollten mir beibringen, mich nicht zu schämen. Es war ein gutes Krankenhaus. Dennoch schämte ich mich.
Dann kam der Physiotherapeut. Als er zur Tür hereinplatzte, begriff ich sofort, dass ich wieder im Sportunterricht war. Er war fit und braun gebrannt. Sein Krankenhauspolohemd saß so eng, dass sich die Ärmelnähte über dem Bizeps spannten. Unter dem linken steckte ein Klemmbrett. Nur die Trillerpfeife fehlte.
»Charles Neumann!« Vor meinem Bett blieb er stehen und verschränkte die Arme.
Ich hatte ferngesehen und fühlte mich ertappt.
»Soll ich Charles sagen? Oder Charlie? Chuck?«
»Charles.«
»Ich heiße Dave.« Er schob ein Gestell mit Tropfbeuteln beiseite. »Ich bin hier, um Sie aus dem Bett zu holen.«
Ich musterte das Bett. Die Decke war warm. Ein paar Zeitschriften lagen bei meinen Füßen. Meinem Fuß. Mein Handy griffbereit daneben. Ich verstand nicht, wieso das Bett ein Problem sein sollte.
Daves Augen leuchteten. Bestimmt trank er viel Obstsaft. Auf einmal kam ich mir ganz schlapp vor. »Wir werden hart miteinander arbeiten, Charles, da möchte ich Ihnen gar nichts vormachen. Manchmal werden Sie mich nicht besonders mögen.«
Er zog einen Stuhl heran. Grinsend stand er da. Mein Blick ging vom Stuhl zu ihm. »Was ist?«
»Auf den setzen Sie sich jetzt.«
Der Stuhl schien sehr weit weg. Und mindestens einen halben Meter niedriger als das Bett. Wenn ich nun stürzte? Dave wartete. Sein Grinsen war wie festgemeißelt. Ich legte das Telefon auf den Nachttisch und klappte die Zeitschriften zusammen. Ich schlug die Decke zurück. Dann beugte ich mich vor, um den Verband und die Schläuche zu prüfen.
»Machen Sie sich keine Sorgen um dieses ganze Zeug. Schwingen Sie einfach Ihren Hintern auf diesen Stuhl.«
Einfach meinen Hintern auf diesen Stuhl schwingen? Nicht zu fassen. Trotzdem schob ich mich nach vorn. Mein Stumpf scharrte über das Laken. Es war nicht schrecklich. Aber auch nicht schön. Überall juckte es. Ich hatte Durst. Ich sah mich nach einem Glas Wasser um.
»Na los, Charles.«
Ich umklammerte die Bettkante und manövrierte das gesunde Bein darüber. Dann den Stumpf. Am liebsten hätte ich bei dieser kleinen Bewegung losgeheult. Es war so jämmerlich. Früher waren ganze Gliedmaßen auf meinen Befehl hin gesprungen. Und jetzt das.
»Nur noch ein kurzes Stück.«
Ich rutschte vom Bett und fiel auf den Stuhl. Der Schock des Aufpralls fuhr in meinen Stumpf und ließ die Nerven dort aufjaulen. Meine Chirurgin Dr. Angelica Austin hatte sie in meinem Körper nach oben gefaltet. Das hatte ich von einer Schwester erfahren. Sie befanden sich an Stellen, wo sie nicht hingehörten, und fragten sich jetzt, was los war. Irgendetwas tropfte mir in die Augen.
»Ja! Super! Super!« Dave sank in die Hocke und klopfte mir auf den Arm. »Sie haben es geschafft!« Er lachte, als ob wir Freunde wären. Aber das waren wir nicht. Ganz bestimmt nicht.
Am nächsten Tag flitzte Dave in einem Stahlrollstuhl herein. Ziemlich schick. Ich meine, dafür, was es war. Die Räder blitzten. Sitz, Rückenteil und Armlehnen waren aus grünem Leder.
Dave parkte neben meinem Bett und kletterte heraus. »Hiho, Silver!«
»Wie bitte?«
»Zeit, auf Ihr Ross zu steigen, hoher Herr.« Er klatschte die Hand auf den Stuhl. »Das wird Ihnen bestimmt gefallen.«
Es würde mir bestimmt nicht gefallen. Das wussten wir beide. Was mir bevorstand, waren Anstrengung, Zittern und eine Landung auf dem Stuhl wie ein
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