Maskenball
Eltern?«
»Eigentlich ganz normal, würde ich sagen. Ich habe als Kind nicht viel gefragt, woher sollte ich auch wissen, wie Eltern sind oder sein sollen? Meine Mutter hat früher viel geweint. Ich denke heute, das hängt mit Herbert zusammen. Er konnte oft so aggressiv sein. Aus heiterem Himmel. Dann war ihm nichts heilig. Stundenlang konnte er dann in seinem Zimmer toben und Sachen gegen die Wand werfen. In diesen Augenblicken ließ er niemanden an sich heran. Mein Vater war im Grunde ein schweigsamer Mann. Er hat nie viel erzählt oder sich mit uns beschäftigt. Nur wenn er Besuch von seinen Freunden hatte, konnte er auch lachen. Ich habe abends in meinem Bett gelegen und den Stimmen zugehört, die aus der Küche kamen. Ich habe nicht verstehen können, was sie erzählt haben, nur ihr Lachen habe ich gehört und den Klang der Bierflaschen, wenn sie angestoßen haben. Aber ich wusste, dass sie vom Krieg erzählt haben. Das haben sie immer getan, wenn sie sich getroffen haben. Und immer dann haben sie von den alten Geschichten angefangen, wenn sie schon getrunken hatten. Ich glaube, sie waren froh, dass sie den Krieg heil überstanden hatten.« Hiltrud Claassen nahm die Kaffeekanne in die Hand. »Ich bin eine unaufmerksame Gastgeberin; darf ich Ihnen noch nachschütten? Bitte, greifen Sie doch zu.«
Frank und Ecki nickten.
»Und wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder?« Frank konnte nicht länger widerstehen und nahm ebenfalls einen Rollkuchen vom Teller. Erst jetzt stellte er fest, dass er außer einer schnellen Tasse Kaffee und einem halben Brötchen den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.
Hiltrud Claassen sah Frank müde an. »Ehrlich gesagt, wir haben wenig gemeinsam, außer unseren Eltern. Wir haben nicht viel miteinander gesprochen. Eigentlich gar nicht, wenn ich genau überlege. Ich war halt seine Schwester. Er hat mich zur Kenntnis genommen, mehr aber auch nicht.«
»Bedauern Sie das heute, haben Sie das früher schon bedauert?« Franks Magen knurrte.
»Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie von Ihrem eigenen Bruder schlichtweg übersehen werden? Er hat mir nicht die geringste Chance gegeben, damals.«
»Und später?«
»Nach dem Wehrdienst und dem Studium ist er dann sehr schnell nach England gegangen. Seither haben wir nur sporadisch Kontakt. Wenn ich mich nicht ab und an melden würde, wäre selbst das nicht mehr.« Hiltrud Claassen trank einen Schluck Kaffee. »Sagen Sie mir bitte, warum fragen Sie mich das alles?«
Frank legte den angebissenen Rollkuchen zurück auf den kleinen Teller neben seiner Tasse. »Frau Claassen, halten Sie es für möglich, dass Ihr Bruder Ihren Vater umgebracht hat.«
Hiltrud Claassen hatte gerade ihre Tasse gehoben, um zu trinken. Mit einer abrupten Bewegung stellte sie sie auf den Unterteller zurück. Das dünne Porzellan schepperte unter dem heftigen Stoß. Ihre Hände zitterten. »Sagen Sie das bitte noch einmal!« Hiltrud Claassen hatte ihre Hände vor das Gesicht gelegt. Nur langsam ließ sie sie wieder in ihren Schoß gleiten. Sie schüttelte stumm ihren Kopf.
Ecki sah Frank vielsagend an, bevor er Verhoevens Tochter ansprach. »Sind Sie jetzt so fassungslos, weil Sie Ihrem Bruder so eine Tat zutrauen, Frau Claassen?«
»Ich verstehe nicht?«
»Trauen Sie Ihrem Bruder so etwas zu?«
»Ja, nein, natürlich nicht.« Hiltrud Claassen griff sichtlich verwirrt nach ihrer Kaffeetasse stellte sie wieder hin, wollte ein Teilchen vom Teller nehmen, hielt inne und presste stattdessen eine Faust gegen ihren Mund, so als hätte sie schon zuviel gesagt.
Frank sprach behutsam weiter. »Frau Claassen, was meinen Sie mit ›ja, nein‹?«
Hiltrud Claassen hatte Tränen in den Augen. »Ich weiß nicht, was ich denken soll, Herr Kommissar. Kann ein Sohn seinen Vater umbringen? Könnte Herbert so etwas tun? Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein.« Sie atmete tief durch. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich traue meinem Bruder eigentlich keinen Mord zu. Aber was heißt das schon? Ich kenne ihn doch nicht wirklich. Und ich habe ihn doch so lange nicht mehr gesehen. Die Zeit und die Umstände verändern einen Menschen.« Eine einzelne Träne rann über ihre Wange. Sie bemerkte sie nicht. »Ich weiß nur, dass Herbert oft so aggressiv sein konnte. Ohne erkennbaren Grund, wie gesagt. Ich weiß nicht, wie weit er gehen würde, und ob er seinen Vater wirklich so hassen könnte, um so eine Tat begehen, zu können. Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.«
Frank bemühte sich,
Weitere Kostenlose Bücher