Maskenball
Für einen Augenblick schien er seinen Gedanken nachzuhängen und wirkte seltsam entrückt. Aber nur für einen kurzen Augenblick. Dann war er mit seinen Gedanken zurück im Wohnzimmer seiner Gastgeberin. »Außerdem bin ich, zugegeben, sehr aufgeregt. Ich freue mich auf die Begegnung mit den Schülern.« Wie um seinen Worten auch sichtbar Gewicht zu geben, richtete sich Heinrich Krüger kerzengerade in seinem Sessel auf. »Wir Alten dürfen nicht vergessen, und die Generationen nach uns schon gar nicht. Wir müssen uns erinnern, sonst verlieren wir unsere Zukunft. Es mag pathetisch klingen, aber solange noch Blut in meinen Adern fließt, will und muss ich meine Geschichte erzählen. Das bin ich all denen schuldig, die ich zurücklassen musste.« Heinrich Krüger wirkte mit einem Mal erschöpft, langsam ließ er sich in den Sessel zurücksinken.
Frank nickte schweigend und musterte Heinrich Krüger. Er schätzte den alten Mann auf mindestens Ende 70. Trotz seines hohen Alters machte er auf Frank einen erstaunlich lebhaften Eindruck. Er hatte eine straffe aufrechte Haltung, die keine Sekunde lang bemüht oder antrainiert wirkte. Sein hellgraues Haar war noch voll und der klare Blick seiner blauen Augen unterstrich sein souveränes Auftreten.
Heinrich Krüger war ein mittelgroß gewachsener Mann, mit fein geschnittenen Gesichtszügen, der sich zurückhaltend, aber mit Geschmack kleidete. Er schien über die Jahre die britische Lebensart angenommen, zu haben. Über einer dunklen Stoffhose trug Heinrich Krüger ein helles Hemd mit dunkler Weste, an der eine goldene Uhrkette befestigt war. Über die Weste hatte er ein gedecktes Jackett aus bestem englischen Tweed gezogen. Nicht, dass Heinrich Krüger wie ein britischer Lord wirkte, dachte Frank, gleichwohl dürfte seine Erbschaft, von der er eben gesprochen hatte, nicht gerade klein gewesen sein.
»Die Kriegsjahre müssen für Sie schrecklich gewesen sein.« Lisa trank einen Schluck Tee.
»In der Tat, das waren sie. Entschuldigen Sie, wenn ich das so deutlich sage, aber die verdammten Nazis haben uns unsere Jugend gestohlen. Sie haben uns verheizt für ihre verlogenen und kriminellen Zwecke. Aber wir waren damals jung, was wussten wir denn schon von Politik oder Krieg? Wir mussten gehorchen. Und wir haben gehorcht. Und genau das war unser Fehler. Viele, viel zu viele haben dafür mit dem Leben bezahlen müssen. Wir sind nicht aufgestanden und haben uns gegen diese Volksverhetzer gestellt. Das werfe ich mir und meiner Generation vor, und das werde ich mir und meiner Generation nicht verzeihen.«
Frank trank schweigend sein Mineralwasser. Heinrich Krüger hatte sicher recht. Lisa wollte nun doch mehr von ihrem Gast wissen. »Haben Sie noch an der Front kämpfen müssen?«
»Ich war damals 14, als unser Dorf, als Breyell im Herbst ’44 geräumt wurde. Ich kann mich noch gut an diese Zeit erinnern. Nur wenige Breyeller haben sich damals dem Befehl widersetzt und sind doch heimlich geblieben. Mein Vater war im Krieg, mein Großvater lebte mit meiner Mutter und mir in unserem Haus. Mich haben sie dann kurz nach der Evakuierung ›zu den Fahnen gerufen‹, wie das hieß. Im Januar 1945 muss das gewesen sein. Ich gehörte zum letzten Aufgebot des Großdeutschen Reiches. In eine viel zu große, furchtbar kratzige Uniform haben sie mich gesteckt. Der Stahlhelm ist ständig verrutscht. Die Armeepistole, die sie mir dann in die Hand gedrückt haben, war so schwer. Ich hatte Angst vor den Stielhandgranaten und den Panzerfäusten, die wir mit uns schleppen mussten. Immer habe ich gedacht, dass sie von alleine losgehen.« Heinrich Krüger wirkte jetzt müde, die Erinnerung strengte ihn offenbar sehr an. »Zum Glück haben sie mich nicht an die Ostfront geschickt, oder was von ihr übrig geblieben war. Ich durfte in der Nähe von zu Hause bleiben. Ich sollte zusammen mit ein paar Schulkameraden und einigen alten Männern doch tatsächlich die sogenannte Heimatfront vor den heranrückenden Amerikanern verteidigen. Wir sollten die Bahnlinie bewachen, die über Viersen auch heute noch nach Venlo führt.« Krüger lachte kurz auf. »Ha, bewachen. Wir haben Schützenlöcher gegraben und uns dann mit dem Wachdienst abgewechselt. Schwere Waffen hatten wir nicht, keine Flak, keine Pak. Irgendwann waren dann die Alten weg und wir waren auf uns alleine gestellt. Wir waren wirklich das ›Fähnlein der sieben Aufrechtem. Wir waren Kinder, Kinder, die Krieg gespielt haben. Und wir hatten
Weitere Kostenlose Bücher