Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
Vom Netzwerk:
gut.
    Doch Horst hatte die Rechnung ohne Mama gemacht. Eine Frau aus dem Flüchtlingslager, die im Militärunterricht eine ausgezeichnete Schützin war und mit fünfzehn Jahren ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte, ließ sich nicht von Porzellanvögeln abschrecken. Mama zog einen Schuh aus, zielte, warf in seine Richtung, traf Horst mit der Hacke direkt auf die dicke Knollnase, die sofort zu bluten anfing, und bewies damit, dass sie immer noch eine sehr gute Schützin war. Dann ermahnte Mama mich, keine Geschenke von Fremden anzunehmen, schon gar nicht von solchen, die mich »Bisamratte« nannten.
    »Alle gleich, diese Alkoholiker«, meinte Mama und schüttelte den Kopf. Ja, Mama hasste Alkohol und Alkoholiker. Wenn sie mal etwas Nettes über meinen Vater sagte, dann, dass er vielleicht geizig und gemein, aber immerhin kein versiffter Schluckspecht sei, der wie eine Bahnhofstoilette stank. Nein, Baba rührte nie einen Schluck Alkohol an, er nannte es »Teufelszeug«. Als ich älter wurde und Baba die erste Fahne an mir roch, zwang er mich, Spülmittel zu trinken, bis ich nur noch Schaum und Seifenblasen kotzte. Vielleicht hätte ihm ein Schluck Bier gar nicht übel getan und wenigstens für kurze Zeit seine innere Verbissenheit weggespült.
    Am Abend wollte ich wissen, ob ich ein Nigger sei. Nein, meinte Mama, außerdem sollte ich dieses Wort nicht mehr benutzen. Ich fragte, ob ich Libanese sei, weil Mama und Baba im Libanon geboren waren, und sie sagte wieder Nein, weil sie ursprünglich aus Palästina stammten. Dann fragte ich, ob ich Palästinenser sei, und Mama antwortete, Palästina sei unsere Heimat, aber ich sei in Deutschland geboren. Und als ich fragte, ob ich Deutscher sei, hieß es, Deutschland sei mein Geburtsland, aber unsere Familie stamme ursprünglich aus Palästina. Mein Gesicht wurde puterrot, und ich rief, ich wäre lieber ein Nigger oder eine Bisamratte als nichts Halbes und nichts Ganzes, und Mama ermahnte mich, nicht zu fluchen.
    Ich war ganz verzweifelt, denn Baba sagte, ein Mann, der seine Kultur nicht kennt, sei kein Mann und wertlos, Mama lachte und sagte: »Um Himmels willen, du hast vielleicht Sorgen!« Als ich etwas erwidern wollte, sagte sie: »Ruhe jetzt, ich muss Essen machen.«
    In der Schule hatte ich keinen einzigen Freund. In den Pausen stand ich alleine auf dem Schulhof, stopfte Schokoladenweihnachtsmänner in mich hinein und traute mich nie zu lachen, weil ich schwarze, von Karies zerfressene Milchzähne hatte. Meine Mitschüler nannten mich immer nur Brauner. »Her mit dem Bleistift, Brauner« oder »Gib die Schokolade, Brauner«. Es gab aber auch nette Klassenkameraden, die mich freundlich mit »Morgen, Brauner« grüßten. Meine Lehrer nannten mich nicht Brauner, das wäre politisch nicht korrekt gewesen, wie Mama immer sagte, sie nannten mich Wisam. Ich hätte aber kein Problem damit gehabt, wenn sie mich Brauner genannt hätten, schließlich war es die Wahrheit, und warum sollte man die Wahrheit nicht aussprechen? Wäre es so schlimm, wenn man sich auf der Straße mit »Morgen, Schlitzauge« oder »Wie geht’s, Schwarzer?« und »Hi, weißes Toastbrot« grüßen würde? Wieso sollte man beleidigt sein, wenn man braun war und andere einen Brauner nannten? Wenn man ein Problem damit hatte, braun, gelb oder weiß zu sein, sollte man das seinen Eltern ankreiden und nicht den Menschen, die einen so nannten. Wenn ich Mama fragte, warum ich nicht »Nigger« oder »Schlitzauge« sagen durfte, antwortete sie: »So etwas sagt man nicht«, oder: »Das ist politisch nicht korrekt« – anscheinend war es politisch nicht korrekt, die Wahrheit zu sagen. Die Erwachsenen und ihre vielen Regeln verwirrten mich schon immer. Ich war zufrieden, »Wisam der Braune« zu sein und fand, es hörte sich an wie ein Indianername. Natürlich war ich bei den Lehrern nicht beliebt, was aber vielleicht nicht unbedingt an meinem Aussehen lag, sondern eher daran, dass ich ein grottenschlechter Schüler war, der keinerlei Begabung für irgendwas erkennen ließ.
    Jeder wusste, Wisam war schlecht in Lesen, Schreiben und Rechnen. Wisam war schlecht in Sport, weil er keinen Bock hochkam, und miserabel in Kunst, weil er verstörende Bilder zeichnete und sich immer mit Farbe vollkleckste. Eigentlich war Wisam in allem schlecht und als »verfluchter Idiot auf die Welt gekommen«, wie Baba zu sagen pflegte. Manchmal ärgerte ich mich darüber, so ein verfluchter Idiot zu sein, doch ich wusste nicht, wie man

Weitere Kostenlose Bücher