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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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aufhörte, ein verfluchter Idiot zu sein.
    Ein Junge namens Markus, der in meiner Klasse war, hatte es besonders auf mich abgesehen. Wie der Zufall es so wollte, war Markus nicht verflucht, sondern mit allem gesegnet, was mir so fehlte. Nicht nur, dass er eine Bilderbuchsonnenblume mit blonden Haaren und blauen Augen war; sein Vater war Leiter einer Schuhfabrik, und nach der Schule holte er Markus immer im glänzenden schwarzen Auto mit dem Stern ab – und jeder wusste, nur Reiche konnten sich das Auto mit dem Stern leisten. Markus verprügelte mich nach der Schule, klaute mir meine Schokolade, trat gegen meinen Ranzen und warf mit Steinen nach mir. Ich konnte ihn nicht ausstehen, mit seinem weichen Haar, den sauberen neuen Klamotten und den ganzen Freunden, die er hatte. Dabei war Markus ein gehässiges kleines Biest, das die Mädchen nach dem Sport durch den Türspalt in der Umkleidekabine beobachtete, weil er in Sabine verknallt war und wissen wollte, wie ihre Brüste aussahen, obwohl Sabine noch viel zu klein war, um Brüste zu haben. Einmal steckte er mir während des Unterrichts einen Grashüpfer in den Kragen, ich zappelte, mein Lehrer schimpfte mit mir und meinte, ich könnte nie still sitzen. Alle lachten. Ein anderes Mal schlug er mir auf den Rücken, während ich Milch aus der Tüte trank. Ich verschluckte mich, und die Milch lief mir aus der Nase wieder raus. Alle lachten. Im Sportunterricht zog mir Markus die Hosen runter – ausgerechnet an diesem Tag hatte ich keine sauberen Unterhosen mehr und präsentierte deshalb der ganzen Klasse meinen nackten braunen Hintern. Alle lachten. Wenn Markus einen Witz machte, lachten alle, besonders wenn es ein Witz über mich war.
    Markus ging mir auf die Nerven, und manchmal hätte ich ihm gerne die selbstgefällige Fresse poliert, doch ich war ein schwacher, ängstlicher Junge, durch dessen Adern kein Löwenblut floss. Einmal sah ich im Fernsehen eine Dokumentation über Opossums. Kleine pelzige Tierchen mit einem einfältigen Blick, die zu der Gattung der Beutelratten gehören und ein untypisches Verhalten an den Tag legen: Wenn der Feind ihnen auflauert, kämpfen sie nicht, laufen nicht davon, sondern stellen sich einfach tot. Ich fragte mich, ob Opossumblut durch meine Adern floss, weil ich nicht wusste, wie man kämpfte. Einmal schlief ich im Unterricht ein, weil meine Eltern mal wieder bis in die Puppen gestritten hatten. Markus malte mir mit einem schwarzen Stift einen Hitlerbart ins Gesicht. Als ich aufwachte und einen schwarzen Filzstiftbart im Gesicht hatte, lachten alle. An diesem Tag fasste ich den Entschluss, mich an Markus zu rächen. Als Hausaufgabe sollten wir ein Gedicht zu einem Thema unserer Wahl verfassen. Ich war ein verfluchter Idiot, der nicht lesen, schreiben, rechnen, turnen oder zeichnen konnte, dem Milch aus der Nase lief und der keine Unterhose unter seinen Sporthosen trug, aber es gab eine Sache auf dieser Welt, die ich konnte: Reimen. Ich konnte Wörter miteinander verbinden, von denen ich nicht einmal wusste, wie sie geschrieben wurden. Ich konnte Sätzen einen Rhythmus geben, von denen ich nicht wusste, was sie bedeuteten. Außerdem hatte ich von klein auf die Angewohnheit, Wörter aus dem Fernsehen oder von Erwachsenen aufzuschnappen und so lange nachzufragen, bis ich herausfand, was sie bedeuteten. Mit fünf Jahren ging ich mit Baba auf den Wochenmarkt, er feilschte beim Gemüsehändler um den Tomatenpreis, der Händler wurde irgendwann ungeduldig, machte eine drohende Handbewegung und rief: »Es reicht jetzt!« Baba kaufte keine einzige Tomate, ging weiter zum Brotstand und fing an, um einen Laib Schwarzbrot zu feilschen. Der Verkäufer schaute Baba verdutzt an und meinte, er habe feste Preise, auf die es keinen Rabatt gebe.
    Baba fing eine Diskussion mit dem Brotverkäufer an und fragte, warum das schwarze Brot teurer als das weiße Brot sei. Der Verkäufer sagte, es seien zwei verschiedene Sorten Brot. Baba behauptete, Brot sei Brot, von außen hart, von innen weich und schmecken tue es auch gleich. Der Verkäufer verdrehte die Augen und antwortete spitz, es sei eben so, entweder Baba würde das Schwarzbrot kaufen, oder er solle sich vom Acker machen. Baba zeigte mit dem Finger auf das Schwarzbrot und meinte, das wäre Rassismus; wenn Gleiches einen unterschiedlichen Wert habe. Das Gesicht des Verkäufers verfärbte sich wutrot, und er brüllte: »Hau ab, du Kümmelaraber!« Baba ging weiter, und am Ende unseres Marktbesuchs

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