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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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kreischend entgegen, sie hatte minutenlang vor der Tür gejammert, dagegen gehämmert, doch mein Vater stieß sie unbeeindruckt zur Seite. Sie sah mit ihren verheulten Augen in meine und drückte mich an sich. Ich kämpfte mit den Tränen, ich wollte Mama nicht noch trauriger machen. Schließlich war ich ein Rassist und verdiente die Züchtigung. Sie sah auf meine blauen Finger und schaute ganz unglücklich.
    »Mein Schatz …«, sie küsste mich auf die Stirn, schimpfte wüst über Baba, und ich betete, sie möge leiser schimpfen, damit der Gürtel nicht als Nächstes sie erwischte. Dann brachte sie mir Eis aus der Gefriertruhe und band es mir mit einem Stück Stoff um meine Hände. Der Schmerz ließ meine Knie weich werden, und ich verfluchte meinen Lehrer. Ich fragte Mama, was ein Rassist sei, sie sagte: »Ein schlechter Mensch.« Ich fragte, ob ich ein schlechter Mensch sei, und sie sagte nein. Ich fragte, ob ich ein Rassist sei, sie rief: »Um Himmels willen, nein!« Dann fragte ich, ob wegen mir der Palästinakrieg kein Ende nehme, und Mama lachte. Ich erzählte ihr, dass mein Lehrer und Baba mich für einen Rassisten hielten und von Markus und dem Gedicht. Mama verdrehte die Augen und wollte wissen, wo ich so einen Mist aufgeschnappt habe, und ich meinte, jeder Junge wisse, dass ein Hodensack weich sei. Sie schnauzte: »Nein, das mit den Juden«, und ich antwortete, aus den Nachrichten, die Baba immer schaute. Wieder verdrehte Mama die Augen und schimpfte auf Baba, weil er mich Nachrichten gucken ließ. Sie erklärte mir, dass man so was nicht sagen durfte – man durfte nicht schlecht über andere Menschen sprechen. Ich erwiderte, sie und Baba würden ständig schlecht übereinander reden und dass ich doch gar nicht schlecht über andere gesprochen habe. Mama fauchte: »Das ist was ganz anderes!«, und dass es politisch nicht korrekt sei, solche Dinge zu sagen. Tränen der Verzweiflung stiegen mir in die Augen. Ich verstand nicht, warum das etwas anderes sein sollte. Ich verstand nicht, warum Erwachsene schlecht über andere Erwachsene sprechen durften. »Dies ist was anderes, das ist was anderes.« Wenn Erwachsene nicht weiterwussten, sagten sie einfach: »Das ist was anderes.« »Zum Arsch mit Das-ist-was-anderes!«, rief ich. Mama bekam ganz große Augen. Sie sagte, ich solle nicht Zum Arsch sagen und nie wieder schlecht über andere Völker sprechen – sie habe schließlich keinen Rassisten großgezogen.
    An einem einzigen Tag hatte ich meinen Lehrer, Baba und Mama wütend gemacht und wusste nicht, warum. Ich war ein Rassist und wusste nicht, wieso. Ich hatte ein Volk beleidigt und wusste nicht, womit. Ich sah aus wie ein brauner Hitler und wusste nicht, warum. Die Erwachsenen machten mich so wütend, dass ich meine blauen Finger vergaß und irgendwann einschlief – den Kopf voller unbeantworteter Fragen. Am nächsten Tag schickte mein Lehrer mich zum Schulpsychologen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wusste, dass es Psychologen dafür gab, um Menschen mit Problemen zu helfen, Fragen zu beantworten und Geisteskrankheiten zu heilen. Mein Schädel kochte fast über vor Fragen, und ich hoffte endlich Antworten zu finden. Der Schulpsychologe hatte graue Haare, trug eine blaue Krawatte, eine Brille mit dicken Gläsern und einen überdimensionalen Anzug, in dem er sich wahrscheinlich ganz wichtig vorkam, aber in Wahrheit aussah wie eben ein kleiner Mann, der einen zu großen Anzug trug. Der Schulpsychologe wollte wissen, ob es bei uns zu Hause Probleme gab. Ich sagte Ja und vergrub die blauen Finger in den Hosentaschen. Er fragte, ob ich Freunde an der Schule hatte. Ich sagte Nein und blickte beschämt zu Boden. Doch der Mann ging nicht auf meine Antworten ein, und ich fragte mich, warum jemand eine Frage stellte, wenn er die Antwort überhaupt nicht wissen wollte. Ich hatte eine Menge Fragen und wünschte mir sehnlichst Antworten.
    »Du bist Palästinenser, hat dein Vater schon mal was Schlechtes über Juden gesagt?«, wollte er wissen. Am liebsten hätte ich geantwortet, dass ich nichts Halbes und nichts Ganzes war und keine Ahnung hatte, ob ich Deutscher, Nigger, Libanese oder Palästinenser war, doch ich biss mir auf die Zunge. »Nein, aber meine Mitschüler nennen mich immer Brauner«, antwortete ich. Der Mann schrieb etwas in seinen Notizblock, seine Nasenhaare bewegten sich, ich musste kichern. »Aha«, fuhr er fort. »Es ist nämlich ganz normal, dass Israelis und Palästinenser sich nicht

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