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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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kehrten wir mit einem leeren Einkaufskorb nach Hause zurück. Mir gefiel das Wort »Kümmelaraber«, doch Baba zuckte mit den Schultern, als ich ihn nach der Bedeutung fragte. Später wollte ich von Mama wissen, was Kümmel sei, und sie erklärte, das sei ein streng riechendes Gewürz, das sie manchmal in den Brotteig mische. Als ich fragte, ob Araber nach Kümmel rochen, lachte sie und schüttelte den Kopf. Dann wollte ich wissen, ob Baba nach Kümmel roch. Wieder schüttelte sie energisch den Kopf. Es war nicht immer einfach, die Bedeutung eines Wortes herauszufinden. Als ich schreiben lernte, schrieb ich die vielen verschiedenen Wörter, die ich überall aufgeschnappt hatte, in ein Heft.
    Zu Hause kriegte ich den aufgemalten Bart nicht ab, und Baba schimpfte, ich hätte nur Unfug im Kopf. Mein Plan war lückenlos. Ich hatte die ganze Nacht an der Aufgabe gefeilt und mich stundenlang vorbreitet. Am nächsten Morgen meldete ich mich. Mein Lehrer traute seinen Augen nicht, ich hatte mich noch nie gemeldet.
    »Musst du auf Toilette, Wisam?«
    »Nein, ich will die Hausaufgaben vorlesen«, antwortete ich grimmig. Gab es denn irgendjemanden, der mir überhaupt etwas zutraute? Der Lehrer nahm die Brille ab und sagte gelangweilt: »Gut, dann lies vor.« Ich stand auf.
    »Markus und der Stern,
    er hat blonde Haare und blaue Augen,
    er’s gut in Sport, man mag’s kaum glauben.
    Er guckt durch das Loch der Umkleidekabine,
    und wünscht sich dann, er wäre allein mit Sabine.
    Sein Vater hat ’nen Stern, Markus fühlt sich stark,
    dabei ist er ein dummer weicher Hodensack.
    Die Juden haben auch ihren eigenen Stern
    und trotzdem hatte sie keiner gern.«
    Als ich fertig war, grölte die ganze Klasse. Thomas, der Junge, der immer nach Urin roch, Leggings trug und genauso unbeliebt war wie ich, prustete los: »Dummer weicher Hodensack …« Markus saß wie versteinert auf seinem Stuhl, sein Kopf war rot wie das Innenleben einer Wassermelone. Jetzt wusste jeder, dass er durch den Türspalt spannte und in Sabine verknallt war. Ich war glücklich, ich hatte alle zum Lachen gebracht und Markus bloßgestellt. Nur mein Lehrer starrte mich mit offenem Mund an, seine Brille fiel ihm von der Nase auf den Boden. Langsam wurden alle wieder still. Der Lehrer sagte immer noch nichts. Jemand hustete. Ich wurde nervös. Vielleicht hatte er es nicht richtig verstanden. Gerade als ich erneut ansetzen wollte, befreite er sich aus seiner Schockstarre und brüllte: »Raus aus meinem Klassenzimmer!« Es kam so unerwartet, dass alle zusammenschreckten. Ich blieb regungslos stehen.
    »Ich hab gesagt, raus! Du bleibst vor der Tür und drückst bis zum Ende der Stunde die Türklinke runter!« Mit gesenktem Kopf verließ ich das Klassenzimmer. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Mein Lehrer schrie sonst nie, er hatte mich angesehen, als wäre ich der Geist seiner toten Vorfahren. Das war nicht mein Ziel gewesen. Als der Gong läutete, ließ ich die Türklinke los und packte meinen Ranzen. Alle gingen, nur mein Lehrer blieb, wie ein nasser Sack, auf seinem Stuhl sitzen und starrte die Wand an. Ich wurde nervös. Ich hatte meinen Lehrer verrückt gemacht – das würde zu Hause mächtig Prügel geben. Auf dem Heimweg geschah das, womit ich bereits gerechnet hatte: Markus und seine Gang lauerten mir auf und bildeten einen Kreis um mich herum.
    »Ich prügle dich gleich weich wie ’n Hodensack!«, rief er.
    Ehe ich davonlaufen oder reagieren konnte, stürzten sie sich wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe auf mich. Zum Schluss tunkte Markus mein Gesicht in eine Pfütze und verpasste mir einen Tritt in den Magen. Dann lachte er und zog ab. Meine Kleidung war hinüber, der Rucksack gerissen und mein Gesicht voller Pfützenwasser und Schlamm. Ich fühlte mich gedemütigt und blieb einen Moment im feuchten Dreck sitzen. Jemand reichte mir ein Taschentuch. Ohne hochzusehen, griff ich danach und wischte mir den Schlamm aus dem Gesicht.
    »Du bist talentiert, aber nicht sehr helle.« Ich blickte hoch zu einem frech grinsenden Mädchen in einem Fußballtrikot. Sie hatte lockiges schwarzes Haar, funkelnde grüne Augen und leicht katzenhafte Gesichtszüge. Ich wusste, wer sie war – jeder wusste, wer sie war –, sie hieß Isabella und war zwei Jahrgänge über mir. Ihre kleine Schwester war in meiner Klasse, und manchmal, wenn Isabella auf sie warten musste, saß sie bei uns im Unterricht – wie auch an diesem Tag. Isabella war Italienerin, hatte dunkle

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