Massiv: Solange mein Herz schlägt
wurde kreidebleich, ich hatte noch nie ein Tier sterben sehen. Dann warteten wir an der Ladentheke, bis uns der Schlachter das zerlegte und gehäutete Tier brachte. Wo noch vor wenigen Minuten ein kuscheliges Schaf war, waren nur noch tote blutige Fleischreste. Einfach so hatte der Pakistaner ein Leben beendet. Die Schürze des Mannes war voll mit bösem Schafblut. Das Bild des zuckenden Tiers und der Gestank rohen Fleisches stieg mir die Nase hoch. Ich legte schnell meine Hände auf den Mund und übergab mich. Die Galle spritzte zwischen meinen Fingern hindurch wie durch ein Sieb und versaute das neue teure Opferfesthemd.
»Aj!«, brüllte Baba. Der Pakistaner drehte sich angeekelt weg, als wäre ein halbverdautes Marmeladenbrot widerlicher als frische Schafgedärme. Ich schämte mich zu Tode, und Baba entschuldigte sich bei dem Metzger.
»Sein Magen ist genauso schwach wie sein Charakter«, erklärte Baba und schnalzte mit der Zunge.
Dann legte er ihm einen Geldschein auf die Theke, der Pakistaner machte chrr und sagte, von dem Geld könnten wir uns nicht einmal einen Schafschenkel kaufen. Baba erklärte, er habe nicht mehr Geld und dass dies ein besonderer Tag sei, an dem er seiner Familie ein Festmahl schenken wolle. Der Pakistaner machte wieder chrr und zischte, er sei doch nicht die Wohlfahrt. Baba wurde sauer, denn er wäre lieber gestorben, als etwas von der Wohlfahrt anzunehmen.
»Was kriege ich für dieses Geld?«, fauchte er.
»Einen kahlen Schafkopf, chrr .«
»Gut, dann gibt’s eben Schafkopf.« Der Metzger zuckte mit den Achseln und brachte kurz darauf Baba den Schafkopf. Baba fragte nach einer Plastiktüte.
»Tüte? Für dieses Geld? Bin doch nicht die Wohlfahrt, chrr .«
Baba fluchte vor sich hin und stürmte, mit einem Schafkopf unterm Arm, aus der Schlachterei. Ich war wütend, wütend, weil ein Schaf leiden musste und wir nur seinen Kopf essen durften. Ich gaffte den Schafkopf an, der unter Babas Arm hin und her wippte. Die Menschen guckten Baba an, als wäre er nicht ganz bei Trost, denn nicht alle Tage liefen ein Mann mit einem Schafkopf unterm Arm und ein Junge mit vollgekotztem Opferfesthemd durch die Straßen von Pirmasens. Eine ältere Frau mit grauen Haaren und einem Hund an der Leine zeigte angeekelt auf den Schafkopf: »Himmelherrgott, Sie sind doch ein Barbar. Machen Sie doch wenigstens eine Tüte über den Schädel!« Baba ignorierte sie und ging hastig weiter. Zu Hause schaute Mama verdutzt drein, als wir mit einem Schafkopf antanzten. Sie fragte, wo der Rest des Schafes sei, und Baba erwiderte, er sei doch nicht die Wohlfahrt. Dann sah sie mein vollgespucktes Opferfesthemd und sagte wütend: »Das war das letzte Mal, dass ich dir etwas gekauft habe.«
Sie steckte den Schafkopf in einen Topf mit Wasser, gab geschnittene Kräuter und Zwiebeln dazu, ließ das Ganze stundenlang köcheln und servierte ihn am Abend mit Kartoffeln und Karotten. Der gekochte Schafkopf guckte mich an, und ich guckte den gekochten Schafkopf an. Alle aßen Schafkopf, als sei es das Normalste auf der Welt, Schafkopf zu essen. Baba aß Schafkopf, Amani aß Schafkopf, Mama aß Schafkopf, nur ich aß nichts. Je länger sie Schafkopf aßen, desto schlechter fühlte ich mich. Ich fragte mich, ob ich Mama jemals wieder in die Augen sehen konnte, nachdem sie Schafkopf gegessen hatte. Ich ertrug den Anblick nicht länger, griff nach dem Kopf auf der Tellerplatte und rannte damit ans Ende des Zimmers. Ich öffnete das Fenster, Mama schrie: »Nein!«, doch es war zu spät, der Schafkopf fiel drei Stockwerke in die Tiefe. Wir hörten ein lautes Stöhnen. Baba sprang vom Stuhl und sah aus dem Fenster.
»Du verfluchter Idiot, du hast unseren Nachbarn umgebracht!« Wir rannten die Treppen herunter. Horst lag benommen am Boden. Mama sagte jallah, jallah. Baba redete auf den ohnmächtigen Mann ein. Amani unterdrückte das krampfhafte Bedürfnis, sich totzulachen: »Du hast den Alkoholiker mit einem Schafkopf erschlagen.«
»Das ist nicht lustig«, murmelte ich mit zusammengepressten Lippen.
»Doch …«, entgegnete Amani und hielt sich den Bauch fest. Sie atmete schwer und beherrschte sich nur noch wegen Baba.
»Amani? Amani! Das ist nicht lustig«, jammerte ich. Ich wurde immer verzweifelter. Mama drehte sich weg, ich konnte sehen, wie sie sich abmühte, ihre Mundwinkel, die sich immer wieder hochzogen, unter Kontrolle zu bringen.
»Was ist so lustig daran? Der Tölpel bringt uns noch alle ins Gefängnis!«,
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