Massiv: Solange mein Herz schlägt
einfach das gewisse Etwas, wie Baba immer sagte. Dieses Feuer in den Augen, wenn man vor nichts und niemandem Angst hatte. Das Löwen-Gen, mit dem man die Welt erobern konnte. Langsam, aber sicher hatte ich mein einsames Leben satt. Ich war der einzige Braune zwischen Weißen und das einzige Opossum in einer Familie voller Löwen. Ich war anscheinend dazu bestimmt, für den Rest meines Lebens alleine zu bleiben.
An einem verregneten Sonntag sollte sich alles ändern. Zu Hause herrschte wieder einmal Krieg. Mama und Baba stritten wegen irgendwas, Amani und ich stritten wegen der Holzkiste. Meine Schwester riss mir die Spielkiste aus der Hand und erklärte: »Das ist Spielzeug für mutige Kinder – also nichts für dich! Jetzt lass los!« Ich zog an ihren Haaren, sie schrie, kniff mir in die Wange, ich schrie und verpasste ihr einen Tritt. Baba kam auf uns zugestürmt, weil wir ihn beim Streiten gestört hatten.
Er schnappte nach dem Spielzeug, warf es gegen die Wand, die Spielkiste spuckte einen letzten Ton aus, bevor sie in unzählige Teile zerbrach. Mama schaute erst uns an, dann Baba, dann auf den Boden, wo die vielen zerbrochenen Erinnerungen ihrer Kindheit verstreut herumlagen. Ihre Mundwinkel verzogen sich nach unten, ihre Augen wurden glasig. Ich konnte schwören, sie hatte in diesem Moment den traurigsten Blick der Welt, so traurig, dass ich nicht hinsehen konnte. »Mama …«, stammelte ich, doch sie fing an zu weinen und sagte, Baba habe nicht nur ihre Zukunft, sondern auch noch ihre Vergangenheit zerstört. Ich ging raus, weil ich es nicht ertrug, wenn Mama weinte. Mit gedrückter Stimmung und hängenden Schultern machte ich mich auf den Weg zum Spielplatz. Der Wind wehte mir um die Ohren, dicke Regentropfen prasselten auf mich ein, meine Füße wurden nass, doch ich wäre überall lieber als zu Hause, bei einer weinenden Mutter und einem jähzornigen Vater, gewesen. Es war alles meine Schuld, dachte ich mir. Ich hatte Mamas Erinnerungen zerstört, nur weil ich so habgierig war. Mittlerweile lebten wir in einer Zweizimmerwohnung, in der wir auch ein eigenes kleines Bad mit Toilette hatten. Für andere wäre diese Wohnung eine Bruchbude gewesen, für mich war sie ein Segen, weil ich mein Zimmer nur noch mit Amani und nicht mehr mit dem Rest der Familie teilen musste. Mama hatte die kleine Wohnung mit viel Liebe und wenig Geld eingerichtet. Jetzt konnte man unsere Wohnung fast ein Zuhause nennen. Mama hatte zwei Katzen aus dem Tierheim geholt, weil Katzen sie beruhigten und sie Ruhe dringend nötig hatte. Eine weiße zerzauste Perserkatze namens Leyla und eine schwarze Straßenkatze mit grünen Augen, die Lala hieß. Leyla und Lala waren unsere neuen Familienmitglieder, nur Baba maulte, wenn er noch mehr Mäuler stopfen müsste, würde er bald an einem Herzinfarkt sterben. Eine Woche später brachte Mama zwei Nymphensittiche mit nach Hause. Wenn sie nach der Arbeit heimkam, ließ sie die Vögel aus ihren Käfigen, weil sie es nicht ertrug, sie eingesperrt zu sehen. Sie machten überall hin, kreisten über Babas Kopf, kreischten wie am Spieß und trieben Baba damit in den Wahnsinn.
Als einer der Vögel sein Geschäft auf Babas Schulter verrichtete, wurde er wütend, schnappte nach ihm, doch der Sittich hatte Flügel, war damit klar im Vorteil, und Mama lachte sich ins Fäustchen. Baba behauptete, Mama hätte die verfluchten Vögel trainiert, um ihn zur Weißglut zu treiben. Mama fragte zurück, wie man einem Vogel beibringen konnte, auf Kommando seinen Kot abzuwerfen, als wäre er ein Bomber, und verbarg ihr Grinsen hinter ihrem Handrücken. Eines Nachts trat Baba auf den männlichen Vogel Bobby und brach ihm das Genick. Angeblich sei es keine Absicht gewesen, doch Mama glaubte ihm kein Wort. Der Sittich hatte fabelhafte Reflexe und wäre Babas riesigen Füßen mit Sicherheit ausgewichen, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte. Zwei Tage später starb auch Mimo, der weibliche Vogel – an Liebeskummer, meinte Mama traurig. Ich fragte, ob sie auch an Liebeskummer sterben würde, wenn Baba nicht mehr da wäre, und Mama zeigte mir den Vogel. Mama vergrub die Vögel unter einem Baum in der Nähe unseres Hauses. Wir hielten für die Nymphensittiche eine Zeremonie ab, weil Mama meinte, jedes Geschöpf Gottes würde eine Beerdigung verdienen.
Als ich am Spielplatz ankam, war dieser verlassen und leer. Es war Sonntag, und es regnete in Strömen. An verregneten Sonntagen saßen die Familien gemeinsam am
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