Massiv: Solange mein Herz schlägt
wie ein Kanonenrohr, die Schnauze immer größer, und ehe ich mich versah, wurde Tony mein Leibwächter und nicht umgekehrt. Wir verbrachten viel Zeit miteinander. Tony folgte mir überallhin. Er war ein kluger Hund und hörte auf mich wie ein Soldat auf seinen Hauptmann. Es war das erste Mal, dass jemand auf mich hörte und tat, was ich wollte. Ich brachte ihm bei, auf Kommando zu bellen, Gegenstände zu bringen und sich tot zu stellen. Wir gingen zusammen zum See, um Frösche zu fangen. Ich nahm ihn mit auf den Spielplatz, wo er sich immer in der Schaukel festbiss und die anderen Kinder vor Schreck davonliefen. Kaum gab mir Mama ein bisschen Geld, ging ich in die nächste Tierhandlung, um Tony Spielzeug, Halsbänder und Leckerlis zu kaufen, dabei hatte ich selbst kaum Spielzeug. Doch Tony war besser als jedes Spielzeug, denn er liebte mich. Für Tony war ich nicht nur ein König, ich war der König der Könige. Er wartete den ganzen Tag hinter Ursulas Haustür, bis ich Schulschluss hatte, und wenn ich kam, machte er vor Freude Luftsprünge.
Tony wusste, wo ich wohnte, zur Schule ging, und wo unser Spielplatz war. Er war ein aufmerksamer Hund, merkte sich alles und fand von jedem Ort aus zurück nach Hause oder zu mir. Einmal nach Schulschluss stand Tony vor dem Schultor. Ich rannte hin und fragte ihn, wie er hierhergekommen war und woher er überhaupt wusste, wann ich Schulschluss hatte, doch Tony wedelte nur mit dem Schwanz.
An manchen Tagen war es eine echte Herausforderung, einen Freund zu haben, der eine andere Sprache sprach. Manchmal verstand ich Tony nicht, hatte keine Ahnung, was er gerade von mir wollte, ob er glücklich oder traurig war – doch Tony verstand mich immer. Er wusste immer, ob es mir gerade gut oder schlecht ging.
Ich streichelte Tonys warmen, haarigen Kopf. Markus und zwei andere Jungen kamen auf mich zu. Er grinste: »Na, endlich hat der Braune einen Freund gefunden, der genauso stinkt wie er!« Dann verpasste er meinem Rucksack einen Tritt, und ich kippte nach vorne, wie eine leere Flasche. Alle lachten, ich rappelte mich wieder hoch und wollte weggehen. Doch Tony blieb stehen, knurrte und fletschte die Zähne. Ich rief ihn zu mir, doch zum ersten Mal hörte er nicht auf mich und rannte wie von Sinnen in Markus’ Richtung. So hatte ich Tony noch nie erlebt. Markus drehte sich um und wurde kreidebleich, fing zu kreischen an und fuchtelte wild um sich. Tony setzte zum Sprung an und biss Markus in den Hintern – mit dem Gesicht voran landete Markus in einer braunen Pfütze.
Tony kam mit wedelndem Schwanz zurück, zwischen den Zähnen hatte er ein Stück von Markus’ Jeans, das er mir wie die Trophäe seines Sieges vor die Füße legte. Ich grinste, bückte mich und umarmte meinen mutigen Freund. Plötzlich hörte ich alle um mich herum kichern, sie zeigten auf Markus, der heulend in einer Pfütze lag und der gesamten Schule seinen weißen Hintern präsentierte. Von diesem Tag an rückten mir meine Mitschüler nicht mehr auf die Pelle. Es sprach sich schnell herum, dass der Braune einen braunen Freund mit Biss gefunden hatte.
Bloß meinen Eltern passte es gar nicht, dass ich nach der Schule so viel Freizeit hatte.
»Er ist zu lange alleine«, sagte Mama.
»Ja, der Junge wird immer merkwürdiger«, meinte Baba und schaute gebannt auf die Mattscheibe, wo ein Heer wütender Demonstranten von Polizisten überwältigt wurde.
»Um Himmels willen, Hani, jetzt lass den armen Jungen in Ruhe!« Mama rollte die Augen.
»Mit dem stimmt irgendwas nicht.« Baba schaltete um. Auf dem anderen Kanal lief eine Tierdokumentation, und nichts liebte ich mehr als Tierdokus. Als eine Schildkröte eine andere Schildkröte bestieg, drückte Baba hastig weg und vergewisserte sich, dass keiner diese frivole Szene gesehen hatte. Schnell wieder zum Nachrichtenkanal, wo ein blutüberströmter Mann etwas in die Kamera jammerte.
»Er ist ein ganz normaler Junge.«
»Er hat keinen einzigen Freund.«
»Er ist nur schüchtern.«
»Ständig läuft er mit dem stinkenden Köter dieser drogensüchtigen Frau durch die Gegend.«
»Lass ihn doch, er mag eben Hunde.« Mama verteidigte mich. Im Gegensatz zu Baba mochte auch sie Tiere.
»Der gerät mir noch auf die schiefe Bahn, das sehe ich doch. Der nimmt bestimmt selbst Drogen, so wie der sich benimmt.«
»Um Himmels willen, Hani, er ist doch erst neun Jahre alt.«
»Mit dem stimmt etwas nicht. Guck ihn dir doch an. Sein Kopf ist viel zu groß für seinen
Weitere Kostenlose Bücher