Massiv: Solange mein Herz schlägt
Esstisch. Man erzählte sich Geschichten, lachte zusammen, aß selbst gebackenes warmes Brot, und zum Nachtisch gab es Kuchen mit Schlagsahne. Solche und andere Geschichten erzählten meine Klassenkameraden, wenn die Lehrerin fragte, was wir am Wochenende erlebt hatten. Verregnete Sonntage waren Familientage. An solchen Tagen ging keiner freiwillig auf den Spielplatz, wo der Sand ganz eingeweicht war und man einen nassen Hintern von der feuchten Schaukel bekam. Solche Sonntage gab es bei uns nicht. Wir hatten nicht einmal einen Esstisch.
Ich stellte mir vor, wie Baba, Mama, Amani und ich vor dem kleinen Couchtisch sitzen würden: Baba würde Nachrichten gucken, im Fernsehen liefen blutende Menschen aus brennenden Häusern und trugen kleine tote Kinderkörper auf dem Arm – mir würde der Appetit vergehen, Baba würde sich über das Brot beschweren, weil es ihm entweder zu weich oder zu hart wäre. Mama würde deswegen sauer werden, ein neuer Streit wäre entfacht. Ich würde in mein Zimmer gehen und Bauchschmerzen bekommen, weil ich immer Bauchschmerzen bekam, wenn meine Eltern stritten, und mir die Kopfhörer aufsetzen, um mich an einen anderen Ort zu wünschen. Ich freute mich, dass es keine Familientage bei uns gab.
Ich setzte mich auf den Bordstein und malte mit einem Stock Bilder in den Sand, während mir der Wind feuchte Ohrfeigen verpasste. Plötzlich zog irgendwas an meinem Stock, instinktiv packte ich fester zu. Ich blickte hoch und sah einen Welpen, der sich im Stock festgebissen hatte. Je stärker ich zog, desto heftiger kämpfte der Hund um den abgebrochenen Ast. Dieser Winzling war keine Elle lang und trotzdem stärker als ich. Ich wurde wütend. Anscheinend wollten mir alle etwas wegnehmen, selbst um einen Stock musste ich kämpfen. Nein, dieses eine Mal würde ich mir nichts wegnehmen lassen. Ich schaute nach rechts und links, und weil ich niemanden weit und breit sehen konnte, verpasste ich dem Welpen einen Tritt. Er jaulte und wich zurück, nur um sich kurz darauf wieder am Holzstück festzubeißen. Ein verdammt kämpferischer Welpe, dachte ich mir und zog stärker. Es war vielleicht nur ein Ast, ein modriges Stück Holz, das mir nichts bedeutete, und doch wollte ich es nicht hergeben – dieses eine Mal wollte ich nicht verlieren. Ich umfasste den Stock mit beiden Händen und zog mit aller Kraft. Er löste sich aus dem Maul des Hundes, der schmerzvoll aufheulte, ich fiel nach hinten und lachte gehässig. Ich hatte mich dieses eine Mal durchgesetzt – gegen einen fünfzig Zentimeter großen Welpen. Der Hund fuhr sich mit der Pfote über die Schnauze, schüttelte seinen Kopf und sah mich an.
Ich lag immer noch auf dem nassen Laub. Der Hund hatte tiefbraune Augen und eine große, glänzende schwarze Nase. Er legte seinen Kopf zur Seite und wedelte mit dem Schwanz.
»Warum freust du dich, du blödes Vieh?«, fragte ich grimmig. Ein blöder Köter, er hatte verloren und wedelte trotzdem mit dem Schwanz. Plötzlich ging er in die Tiefe, setzte zum Sprung an und landete auf meiner Brust. Ich stöhnte kurz auf, sein Gewicht drückte gegen meine Rippen, ich dachte, er würde mich beißen, doch stattdessen leckte er mir das Gesicht ab. Es kitzelte, ich musste kichern, er wedelte fröhlich mit dem Schwanz. Ich stieß ihn weg, er sprang erneut auf meine Brust und schleckte mit der rauen Zunge über meine Wange.
»Igitt!«, rief ich. Er roch aus dem Maul wie ein toter Fisch, doch es kitzelte, und ich musste wieder kichern. Als ich mich aufsetzte, platzierte er sich neben mich und schaute mit seinen großen braunen Augen in meine. Er hatte glänzendes braunes Fell, eine schwarze Schnauze, traurig herunterhängende rote Lider, eine weiße Bauchdecke und tapsige weiße Pranken. Ein schlechtes Gewissen hatte ich, weil ich ihn getreten hatte, er war doch nur ein schutzloser Welpe. Es regnete immer noch, ein nasses Ahornblatt landete auf meinem Kopf, ich schüttelte es genervt ab. Ich entschuldigte mich bei dem kleinen Köter, streckte die Hand nach ihm aus, er reichte mir die Pfote. Ich musste lachen, weil dieser Köter mir gerade einen Handschlag gegeben hatte.
»Bist ja ganz schön schlau.« Ich tätschelte seinen Kopf, und er wedelte mit seinem robusten Schwanz, als wäre es das Schönste auf der Welt, den Kopf getätschelt zu bekommen. Ich holte aus, warf den Stock so weit ich konnte, und der Hund rannte hinterher. Dann kam er mit dem Stock im Maul zurück und legte ihn mir vor die Füße. Ich war
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