Massiv: Solange mein Herz schlägt
fassungslos. Der Welpe wollte mit mir spielen. Außer Amani hatte noch nie jemand mit mir gespielt. Mit dieser Geste – mit dieser einen Geste – eroberte er mein Herz. Aufgeregt griff ich nach dem Stock, schmiss ihn geradeaus und gluckste vor Freude, als der Hund hinterherrannte.
Mein Herz öffnete sich wie eine Tulpe am ersten Frühlingsmorgen. Es war, als wäre ich niemals einsam gewesen. Einige Minuten des unbeschwerten Spieles vergingen, bis ich eine Frauenstimme »Tony!« rufen hörte. Der Welpe blieb ruckartig stehen. Eine dürre Frau, pinke Strähnen im aschblonden Haar, kam auf uns zugelaufen. Sie war vollkommen durchnässt, ihre Haare hingen ihr schlapp im Gesicht, und die eingefallenen Wangen glühten rot, als wäre sie einen Marathon gelaufen.
»Da bis’ du ja, du Mistköter.« Sie lispelte und zog an den Ohren des Hundes, der anscheinend Tony hieß. Tony heulte auf – derart mitleiderregend, dass ich der dürren Frau am liebsten kräftig an den Ohren gezogen hätte.
»Lassen Sie das!«, brüllte ich und stellte mich wie ein Leibwächter vor Tony. So etwas wollte ich schon immer mal tun – jemanden beschützen. Ein herrliches Gefühl.
»Wer bis’n du?« Plötzlich leuchtete es mir auf, das musste Tonys Besitzerin sein. Ich zuckte mit den Achseln.
»Weißt nicht, wer du bis’? Der Köter is’ mir weggelaufen«, nuschelte sie.
»Kein Wunder«, antwortete ich patzig. Sie interessierte sich nicht weiter für mich, bückte sich und hakte die Leine in Tonys blauem Halsband ein. Tony blieb stur sitzen, drehte sich immer wieder nach mir um und ließ sich den ganzen Weg über den Hintern wund schleifen. Je weiter sie gingen, desto mehr überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Ich hatte jemanden gefunden, der mit mir spielen und den ich beschützen wollte. Vielleicht würde Tony einen guten Freund abgeben, nein, bestimmt würde Tony einen guten Freund abgeben. Einer, der zwar nicht reden konnte, auf vier Pfoten lief und gerade mitten auf dem Gehweg sein Geschäft verrichtete, aber ich durfte nicht viele Ansprüche stellen, schließlich hatte ich keinen Freund und musste nehmen, was kam. Ich lief Tony und der Frau hinterher.
»Wo wohnen Sie?«, säuselte ich.
»Was geht dich das an?«, giftete sie zurück. Sie kratzte sich am Hintern und zog kräftig an der Leine. Tony machte komische Geräusche, und ich sah mich besorgt nach ihm um.
»Ich wohne da vorne.« Ich zeigte auf den Hügel weiter hinten.
»Und Gott wohnt im Himmel. Und?«
»Wenn Sie wollen, kann ich manchmal mit Tony spazieren gehen.«
»Warum sollte ich das wollen?« Ich überlegte einen kurzen Moment, ich musste mir eine kluge Antwort einfallen lassen.
»Weil’s umsonst ist.« Die Frau blieb stehen. Erwachsene schlugen nie etwas ab, das umsonst war.
»Wie alt bist du?«
»Zehn.« Ich sah nicht aus wie zehn, ich sah nicht einmal aus wie sieben, dabei war ich schon achteinhalb, doch die dünne Frau sah nicht aus, als würde sie so etwas bemerken – sie sah aus wie eine Frau, die Birnen nicht von Äpfeln unterscheiden konnte.
»Gut, aber du kriegst keinen müden Pfennig von mir.« Ich nickte glücklich und ging das Stück zu ihrer Sozialwohnung mit.
»Was ist das für eine Hundesorte?«
»Der Bastard einer Pittbullhündin und eines italienischen Boxers.«
Bastard. Ein neues Wort. Ich traute mich nicht, nach der Bedeutung zu fragen, denn die Frau sah nicht aus wie eine Frau, die gerne Fragen beantwortete.
»Warum heißt der Hund Tony?«
»Mein Exmann mochte Tony Montana, kennst du Tony Montana?« Ich schüttelte den Kopf.
»Den lernst du kennen, wenn du groß bist. Mein Exmann war übrigens auch ein italienischer Bastard.« Sie lachte heiser, ein zerkauter Kaugummi fiel aus ihrem Mund auf Tonys Kopf, der ihn schnell abschüttelte. Anscheinend waren alle Italiener Bastarde, dachte ich mir und trat auf den Kaugummi, weil Tony ihn gerade in den Mund nehmen wollte.
Es wurde doch noch ein guter Tag, trotz des Krieges zu Hause und Mamas vielen Tränen. Es war ein guter Tag, weil ich einen Freund gefunden hatte. Mein Freund konnte nicht sprechen. Er war ein Brauner wie ich. Er war ein italienischer Bastard. Er mochte Stöcke und schleckte mein Gesicht ab, als wäre ich eine Kugel Eiscreme. Ich liebte meinen neuen Freund. Bis zu dem Tag der Explosion war er der treuste Freund, den man sich hätte wünschen können.
In den kommenden Monaten wuchs Tony rasant, seine Zähne wurden lang und spitz wie kleine Speere, der Hals breit
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