Massiv: Solange mein Herz schlägt
seufzte.
»Meine Güte, mein Sohn, ich freue mich für dich, dass du Stimmen hörst, aber ich bin sehr müde. Frag mich morgen noch mal, ja.« Ich wusste, auch am nächsten Morgen würde keiner meine Fragen hören wollen.
Am nächsten Tag gingen wir mit Schwester Birgitta und der Gruppe in die Kirche. Mama erlaubte mir, in die Kirche zu gehen. Auch die Kirche sei Gottes Haus, meinte sie. Ein Chor sang, die anderen Kinder sangen mit. Die Stimmung war heiter und ausgelassen. Für einen winzigen Moment fühlte ich mich wieder wie ein Mitglied der Gruppe – für einen winzigen Moment – und ließ mich von dem Gesang mitreißen. Ich öffnete meinen Mund und sang mit. Im nächsten Augenblick spürte ich in meinem Nacken einen harten Schlag. Schwester Birgitta zog mich an den Ohren aus der Kirche heraus. Draußen schrie sie mich an: »Du Rüpel! Machst dich über meine Religion lustig!«
»Aber Schwester Birgitta …«
»Du bleibst hier draußen. Das hat noch gefehlt, ein kleiner Sozialschmarotzer in der Kirche!« Ich war irritiert. Ich hatte doch nur getan, was die anderen Kinder getan hatten.
»Ich hab doch nur ein Lied mitgesungen«, sagte ich beleidigt. Schwester Birgitta schrie weiter, und in diesem Moment wollte ich sie einfach nicht mehr hören, also kramte ich die Kopfhörer aus meiner Tasche und drückte Play. Schwester Birgittas Lippen bewegten sich weiter. Ich war froh, nur noch der Zuschauer bei einem Stummfilm zu sein, und bewegte meinen Kopf zur Musik. Schwester Birgittas Gesicht nahm eine dunkelrote Farbe an. Sie riss mir die Kopfhörer von den Ohren.
»Findest du das lustig?« Natürlich fand ich es nicht lustig. Ich fand es nicht lustig, von einer Nonne angeschrien zu werden, nur weil ich ein Chorlied mitgesungen hatte. Keiner fände das lustig.
Schwester Birgitta zog an den Kopfhörern, und der Walkman fiel auf den Boden. Ich bückte mich schnell, weil das Gerät alles andere als in einem guten Zustand war, doch Schwester Birgitta kam mir zuvor. Mit all ihrer Kraft trat sie auf den Walkman, und ich musste mitansehen, wie mein wichtigster Besitz in viele kleine Plastikteile zerbrach.
»Nein!«, rief ich und hob die Teile auf, doch es war zu spät, die Playtaste war abgefallen, die Kassette draußen und der Walkman hinüber.
»Das sollte dir eine Lehre sein.« Von da an hasste ich Schwester Birgitta aus tiefstem Herzen, sie hatte meinen einzigen Zufluchtsort zerstört.
Zum Mittagessen gab es breiartige Suppe. Schwester Birgitta schenkte mir mit der Kelle etwas ein. Ich blickte auf meinen Teller, einige Erbsen, Kartoffel- und Speckstücke schwammen darin. Ich war kein wählerisches Kind, aß was auf den Teller kam. Wählerisch konnte man nur sein, wenn man eine Wahl hatte. Doch Mama hatte gesagt, ich solle kein Schweinefleisch essen. Ich traute mich nicht, irgendetwas zu sagen, denn eine Nonne, die den Zufluchtsort eines Kindes zerstören konnte, war zu allem fähig. Stattdessen blieb ich ruhig und schaute auf meinen Suppenteller. Schwester Birgitta bemerkte es.
»Du, da, warum isst du nicht?«
»Ich darf doch kein Schweinefleisch essen.« Ich duckte mich schnell, weil ich mit einem Nackenklatscher rechnete. Schwester Birgitta guckte mich forsch an. Die Haare ragten wie ein grauer Schleier unter ihrer Kopfbedeckung hervor, ihre kalten Gesichtszüge verfinsterten sich. Mit ihrer langen Robe wirkte sie mächtig wie eine Richterin, die über Leben und Tod entscheiden konnte. So eine Nonne konnte einem eine Heidenangst einjagen.
»Für wen hältst du dich? Denkst du, für dich gibt es eine Extrabehandlung?«
»Nein, Schwester Birgitta.«
»Meinst du, ich habe Angst vor dir, weil deine Familienmitglieder kriminelle Sozialschmarotzer sind?«
»Nein, Schwester Birgitta.« Ich hatte keine Ahnung wovon Schwester Birgitta redete, verstand überhaupt nicht, was sie von mir wollte.
»Kein Schweinefleisch essen, ha, dass ich nicht lache! Steckt euch Schafe und Kamele sonst wo rein, aber ein Problem mit Schweinefleisch – dabei sind die euch doch am nächsten. Runter damit – wehe, es bleibt auch nur ein Bissen übrig!«
Die Schwester packte mich am Nacken. Nervös griff ich nach meinem Löffel. Ich dachte an Mama, die gesagt hatte, ich solle kein Schweinefleisch essen. Und die gesagt hatte, ich solle auf die Nonne hören. Was sollte ich aber tun, wenn die Nonne sagte, ich solle Schweinefleisch essen? War es schlimmer, Schweinefleisch zu essen oder nicht auf eine Nonne zu hören? Ich war
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