Massiv: Solange mein Herz schlägt
irritiert. Schwester Birgittas Griff wurde fester. Schnell schlang ich die Suppe in mich hinein. Doch das schlechte Gewissen ließ meinen Magen flau werden. Ich merkte, wie sich mein Rachen mit Galle füllte, und ehe ich begreifen konnte, was geschieht, kam mir Schwester Birgittas Suppe wieder hoch. Das Erbrochene landete direkt in meinem Suppenteller. Ich verfluchte meinen Magen, der genauso schwach wie mein Charakter war. Entsetzt sprangen die anderen Kinder auf. Ich entschuldigte mich, ganz so, als hätte ich ein Verbrechen begangen, ganz so, als dürfte ein zehnjähriger Junge sich nicht übergeben.
»Das hast du mit Absicht gemacht! Los mach den Dreck sauber. Deinen Willen breche ich auch noch.« Ich stand auf und wollte Papier holen, doch Schwester Birgitta drückte mich auf meinen Platz zurück.
»So nicht, so kommst du mir nicht davon. Ich habe dir gesagt, es darf nichts übrig bleiben! Du isst dein Essen weiter, hast du mich verstanden?« Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, was Schwester Birgitta wollte. Der Gedanke, die Galle wieder in mich hineinzuführen … Ich schaute auf meinen Teller, die übel riechenden Dämpfe stiegen mir die Nase hoch. Ich wollte heulen wie ein Neugeborenes, biss mir aber auf die Zunge, weil Heulen mich noch nie weitergebracht hatte. Einen kurzen Moment hoffte ich, eines der Kinder würde protestieren. Doch Stille herrschte im Raum. Die Schwester wollte meinen Willen brechen, doch mein Wille war schon längst vor ihr gebrochen worden. Keiner würde mir helfen, das wusste ich schon. Die Kinder sahen mich mit einer Kreuzung aus Abscheu und Neugier an, und ich fühlte mich wie eine Laborratte im Käfig. Einige drehten sich vor Ekel um, andere kicherten. Ich schloss meine Augen und führte Löffel für Löffel in meinen Mund. Jedes Mal, wenn ich zu würgen begann, zwang mich Schwester Birgitta, von vorne anzufangen. Dreimal kam mir die Suppe hoch, die Prozedur dauerte über eine Stunde. Erst als ich den letzten Bissen in mich hineingewürgt hatte, durfte ich aufstehen, um mich auf der Toilette zu übergeben. Schwester Birgitta sah mich höhnisch an. Für eine kurze Sekunde fragte ich mich, ob nicht auch in ihr der Teufel steckte.
Ein, zwei, drei Jahre vergingen. Ich wusste nicht, warum ich Angst vor der Hölle hatte, denn schlimmer als mein Leben konnte sie gar nicht sein. Baba schlug, Mama weinte. Der Gürtel schnalzte, die Hände brannten. Die Nonne kochte Gallensuppe, ich würgte sie runter. Als Kind hat man es schwer. Alle hielten mich für einen Spinner. Keiner wollte mir glauben, Schwester Birgitta würde mich schlagen. Sie war eine Nonne , eine Dienerin Gottes und ich nur ein einfältiges Kind mit einer blühenden Fantasie. Einmal erzählte ich Baba, Schwester Birgitta hätte mich gezwungen, mein Erbrochenes zu essen. Er hob mahnend die Hand und beschuldigte mich, ein Lügner zu sein.
»Jede Lüge ist eine feige Tat, sie dient entweder dazu, einen anderen hinters Licht zu führen, oder, sich selbst ins rechte Licht zu rücken. In jeder Hinsicht ist es eine Flucht vor der Wahrheit, und jeder weiß, dass nur Feiglinge davonlaufen!« Es war, als würde ich durchbohrt werden von hundert Kugeln, abgefeuert im Namen der Ungerechtigkeit. Es tat weh, so unheimlich weh, diese ungerechte Welt, in der das Wort eines Kindes weniger wert als weggeworfener Müll hatte. Ich wusste nicht, ob es feige war zu lügen, aber anscheinend war es mutig, in einer Welt voller Lügner die Wahrheit zu sagen. Vieles wäre nie passiert, wenn mir nur einmal jemand zugehört hätte. Als der Knoten in meiner Brust immer heftiger drückte und die Insekten in meinem Schädel immer lauter wurden, beschloss ich mich jemandem anzuvertrauen – jemandem, der mir wirklich zuhörte.
Ich klingelte an Ursulas Haustür, betete, Tony würde es gut gehen. In der ganzen Zeit hatte ich ihn nicht einmal besucht – ob er sich wohl noch an mich erinnern konnte? Er tat es. Tony war eben Tony und das treuste Wesen auf Erden. Die Tür ging auf, er sprang mich an und wedelte aufgeregt mit seinem Schwanz. Ich umarmte ihn und fühlte mich nach langer Zeit wieder gut.
»Sieh mal einer an, wer sich zu uns verirrt hat. Der arme Köter hat Todesqualen gelitten und mir jeden Tag die Ohren vollgejault«, sagte Ursula schnippisch. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen.
»Tut mir leid, ich hatte viel Stress.«
»Was hast du denn für Stress? Du bist doch noch ein Kind.« Ich gab Tony den Kauknochen, den ich ihm
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