Massiv: Solange mein Herz schlägt
extra gekauft hatte und nahm ihn mit nach draußen. Es regnete, ein warmer Sommerregen, der sich gut auf der Haut anfühlte. Alles fühlte sich plötzlich gut an. Die Luft schmeckte frisch, der Wind wehte schwach, und es roch herrlich nach feuchter Erde. Tonys Anwesenheit stimmte mich friedlich. Wir rannten über die Wiese, ich warf den Stock, Tony rannte hinterher. Bei dem Gedanken, meinen besten Freund im Stich gelassen zu haben, kamen mir fast die Tränen. Ich hockte mich hin, Tony setzte sich zu mir. Dann erzählte ich ihm alles. Ich erzählte ihm von dem heißen Sommertag, von Schwester Birgitta und der Ignoranz der Erwachsenen, von den ständigen Streitereien meiner Eltern und dem schweren Los, ein Kind zu sein. Tony blieb ruhig und hörte mir aufmerksam zu. Er schaute mich mit seinen großen braunen Augen an, legte seinen Kopf auf meinen Oberschenkel und schnaufte laut, als würde er meinen Kummer teilen.
»Du verstehst mich, Tony.« Ich tätschelte seinen Kopf, und Tony wedelte wieder mit dem Schwanz. Wie einfach es doch war, ihn glücklich zu machen. Er sprang gegen meine Brust, ich kippte nach hinten, und Tony tat, was er immer tat, wenn ich am Boden lag – er schleckte mein Gesicht ab. Ich kicherte und war so unbeschwert, als hätte es nie eine Zeit vor dieser Zeit gegeben. Tony fuhr mir mit seiner rauen Zunge über meine Wange. Es kitzelte. Ich kicherte. Tonys Schnurrhaare kratzten wie harte Borsten an meiner Wange. Es kitzelte. Ich kicherte nicht mehr. Tony schleckte meine Ohren ab. Es fühlte sich an wie …
Meine Brust zog sich zusammen. Ich stieß Tony weg, doch Tony war eben Tony, unschuldig und unwissend. Er dachte, ich würde mit ihm spielen wollen, und fuhr mir erneut mit der Zunge über mein Gesicht. Widerwärtig fühlte sich das an, und der Knoten schnürte sich immer fester zu, die Insekten wurden lauter. Ich bekam kaum noch Luft. Und plötzlich – ganz plötzlich – hatte ich das Gefühl, mein Herz würde explodieren und all der Hass herausfließen wie Blut aus einer offenen Wunde. Ich stand ruckartig auf und brüllte: »Hör auf damit!« Tony wich zurück und zog den Schwanz ein, ich hatte ihn nie zuvor angeschrien.
»Fühlst dich ganz stark, ja?« Ich verpasste Tony einen Tritt. Er winselte, doch ich hatte kein Mitleid. Ich fühlte mich stark und mächtig. »Dir werde ich’s zeigen!«, schrie ich. Das war nicht mehr ich, es war, als hätte mein Geist meinen Körper verlassen. Ich nahm einen Backstein vom Boden, holte aus und warf mit voller Wucht in Tonys Richtung. Er hatte keine Chance auszuweichen. Ein dumpfer Laut. Ein klägliches Heulen, bevor er zu Boden fiel und bewegungslos liegen blieb. Ich atmete schwer, mein Herz pochte. Ich ging in die Hocke, blieb ruhig sitzen. Es dauerte einige Minuten, bis mein Geist in meinen Körper zurückkehrte und ich begriff, was ich gerade getan hatte.
»Tony …«, stammelte ich leise, doch Tony blieb still. »Tony …« Mit langsamen Schritten ging ich zu ihm rüber, er lag da, ganz ruhig. »Tony …«, ich kniff ihm in den Nacken. Er rührte sich nicht. »Komm schon, Tony … es tut mir leid.« Tränen rollten mir über die Wangen. Ich hoffte, Tony würde aufstehen, über die Wiesen tollen und mit dem Schwanz wedeln. Morgen würde ich ihm den größten Kauknochen kaufen, den ich finden konnte, ja, das würde ich ganz bestimmt tun. Dann würde Tony nicht mehr sauer sein und ganz schnell vergessen, dass ich einen Backstein nach ihm geworfen hatte. »Bitte, Tony!« Ich schüttelte ihn, doch Tony stand nicht auf. Ich umarmte ihn, sein Körper fühlte sich noch warm und lebendig an.
Der Himmel deckte uns mit Nässe zu, Tonys Fell wurde feucht von den Regentropfen und meinen Tränen. Seine Augen waren weit aufgerissen, doch da war kein Leben mehr. Ich hatte meinen einzigen Freund erschlagen. Meinen einzigen Freund. Ein Freund, der mich nie belogen, hintergangen, betrogen oder verletzt hatte. Wie denn auch? Lügen und Heimtücken waren Menschendinge. Tony war kein Mensch, er war nicht fähig, Böses zu tun. Jedes Mal, wenn ich in sein Gesicht gesehen hatte, in dieses ehrliche und freundliche Gesicht, wusste ich, dass es auf dieser Welt noch das Gute geben musste. Er wollte mich immer nur beschützen. Er freute sich immer, wenn er mich sah. Er hatte mir immer vertraut. Er war immer mein treuer Freund gewesen. Er blieb stehen, wenn ich es ihm sagte, er ging weiter, wenn ich es ihm erlaubte. Er wartete den ganzen Tag, bis ich ihn abholte. Er
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