Massiv: Solange mein Herz schlägt
wartete Wochen, Monate, Jahre, bis ich kam. Das war alles, was Tony machte – auf mich warten. Er lebte nur für mich. Er war ein Freund, der mir in schweren Zeiten beistand, mir zuhörte und mich ohne Worte verstand. So einen Freund würde ich nie wieder finden. Nie wieder. Bei diesen Gedanken schnürte sich mir die Kehle zu. Ich schrie und wünschte, der Stein hätte mich getroffen. Ich wollte mir die Zunge, die Zähne, die Nägel rausreißen, irgendwas tun, das mich von der Trauer ablenkte. Ich schlug mit den Fäusten auf den Asphalt, bis sie blutig wurden. Ich biss mir auf die Lippe, bis sie aufriss. Doch es half alles nichts, die Schmerzen hörten nicht auf. Zwei Stunden bewegte ich mich nicht vom Fleck und legte mich wie ein Embryo im Mutterleib neben Tonys toten Körper. Es wurde dunkel, ich zitterte, aber ich konnte nicht gehen. Ich konnte doch nicht einfach meinen besten Freund zurücklassen. Ich bat Tony um Vergebung, versuchte ihm zu erklären, alles sei ein Unfall gewesen, der Knoten in meiner Brust sei einfach geplatzt, und er war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ich winselte, die anderen seien schuld – Baba, Serkan, die Nonne. Alle anderen, nur nicht ich … und doch wusste ich, dass ich nicht besser als die anderen war. Ich hatte meine Wut an einem Unschuldigen ausgelassen. Ich hatte Gott gespielt und einem Leben ein Ende gesetzt.
Ich musste Tony hier wegbringen, ihn richtig beerdigen, so wie er es verdient hatte. Doch Tony war schwer, ich konnte ihn nicht heben, deshalb packte ich ihn an den Beinen und schleifte ihn durch die Straßen. Er tat mir leid, er hatte es nicht verdient, wie ein Sack Müll durch die Straßen geschleift zu werden. Ich kam an einem Waldstück an und begann zu graben. Die Erde war vom Regen aufgeweicht. Ich grub ein Loch in den Boden, zwischendurch musste ich immer wieder aufhören, weil ich nicht glauben konnte, was ich da gerade tat. Ich grub ein Loch für meinen besten Freund, den ich zuvor getötet hatte. Ich war ein Mörder – ein besonders bösartiger Mörder –, weil ich ein unschuldiges Wesen getötet hatte. Das Schlimmste, was Tony in seinem kurzen Leben getan hatte, war, Markus und Mirac zu beißen – und das auch nur, weil er mich beschützen wollte. Ich wollte ein Gebet für ihn sprechen, wusste aber nicht, ob Hunde Christen, Muslime oder was auch immer waren. Ich wusste nicht, ob Hunde überhaupt eine Religion hatten. Trotzdem sprach ich ein Gebet, weil ich fand, dass Tony ein Gebet verdient hatte. Ich schnappte nach Luft, wischte mir Rotze und Tränen aus dem Gesicht und legte Tony in das schwarze Loch. Da würde er nun schlafen. Ich deckte ihn mit nasser Erde zu und begrub meinen einzigen Freund, zusammen mit meiner Schuld.
KAPITEL 7
Ein Brauner, ein Zigeuner, ein Traum
Dem Vogel ein Nest, der Spinne ein Netz, dem Menschen Freundschaft.
William Blake
Es war drei Uhr morgens, als ein Summen mich aus dem Schlaf riss. Es klang wie ein wütender Wespenschwarm. Ich öffnete die Augen und stieß einen Seufzer aus, weil ich wusste, was das war. Der Krach kam von einem Akkuschrauber, und ich wusste auch, wer ihn gerade betätigte. Dauernd stand er mit dem Ding vor meinem Fenster und hielt ihn in der Hand wie eine Knarre. Wenn er »on« drückte und das Brummen ertönte, wusste jeder, Mirac ist da.
Ich traf Mirac wieder, nachdem ich Tony beerdigt hatte. Er packte mich, krempelte seine Jacke hoch und zeigte mir eine Narbe an seinem Arm, die aussah, wie ein Gipsabdruck von Tonys Gebiss. Mirac knurrte und meinte, wir hätten noch eine offene Rechnung, und ich fragte mich, welche Plage mich nach Serkan und Schwester Birgitta noch heimsuchen musste, bis ich genug Verzweiflung intus hatte, um auch mich selbst mit einem Backstein zu erschlagen.
»Leere gleich deine Taschen aus – mal sehen, was du ohne deinen Köter machst.« Mirac grinste und blies mir seinen Mundgeruch ins Gesicht. Für gewöhnlich hätte ich eine Höllenangst gehabt und getan, was Mirac von mir verlangte. Für gewöhnlich hätten mir die Knie geschlottert, ich hätte meine Taschen geleert und gebetet, keine Prügel zu kriegen. Doch da war keine Angst mehr. Ich sah mir Mirac genauer an. Er wirkte schmal und schwächlich, seine Pupillen wackelten dauernd hin und her, ohne einen bestimmten Punkt länger als für den Bruchteil einer Sekunde zu fixieren – allem Anschein nach war er genauso nervös wie ich. Außerdem trug er billige Kleidung wie ich, lief zu so später
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