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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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mit irgendwas. Es gab zwei Dinge, die ich in meinem Leben unbedingt erreichen wollte:
    Erstens, nach Palästina gehen und mein Versprechen an Mama einhalten. Zweitens, etwas tun, wofür ich bewundert werden würde. Wie ich das schaffen sollte, wusste ich aber noch nicht.
    Vielleicht waren meine Träume utopisch und nicht zu verwirklichen, doch so war ich eben – ein Träumer. Es reichte schon, dass meine Eltern irgendwas taten. Ich hingegen wollte kein Fabrikarbeiter werden, sondern ein Mensch, zu dem auf-, nicht auf den herabgeschaut wird. Dort oben musste es paradiesisch sein, dachte ich mir, dort oben scherte sich keiner drum, ob du ein Brauner bist, dort oben herrschte eine eigene Klasse: die Elite. Und da wollte ich hin. Um Musiker zu werden, musste man singen können, um Börsenmakler zu sein, musste man zumindest richtig lesen und schreiben können; also strich ich diese Berufswünsche erst einmal von meiner Wunschliste und tendierte eher zu etwas Realistischerem wie Profifußballer. Ich mochte Fußball, konnte gut mit dem Ball umgehen, ein Profifußballer brauchte keinen Schulabschluss und helle musste er auch nicht sein – ein Beruf wie für mich gemacht, dachte ich mir.
    Natürlich musste man, wenn man Profifußballer werden wollte, bereit sein, einiges dafür zu tun. Daher setzte ich meinen guten Willen in die Tat um und klaute ein Paar Fußballschuhe, ein Trikot und einen Fußball.
    »Wie hast du es geschafft einen verdammten Fußball mitgehen zu lassen?«, fragte Mirac belustigt, während sein üblicher, morscher Mundgeruch mir die Nase hochstieg. Ich hatte mich an den Gestank gewöhnt – Mirac und seine Zahnbürste schienen hoffnungslos verfeindet zu sein.
    »Na, ich hab ihn mir unter mein T-Shirt gesteckt und bin einfach rausgegangen«, antwortete ich selbstbewusst.
    »Hast du dir noch ein Tuch um den Kopf gebunden, damit dich alle für eine schwangere arabische Frau halten?«, jauchzte Mirac und schlug sich amüsiert auf den Oberschenkel.
    »Halts Maul«, entgegnete ich und verpasste ihm eine auf den Hinterkopf.
    »Du solltest lieber Profidieb werden, du könntest bestimmt sogar die Freiheitsstatue mitgehen lassen, ohne dabei erwischt zu werden.« Mirac guckte mich erwartungsvoll an, wie ein drittklassiger Komiker, der nach einer schlechten Pointe auf die Reaktion des Publikums wartete.
    »Was soll ich denn mit der Freiheitsstatue, du Idiot?«
    »Das war nur Spaß, aber überleg es dir.«
    »Nein, Klauen ist nur mein Nebenberuf, irgendwie muss ich ja Geld verdienen, aber mein richtiger Beruf muss schon was hermachen. Meine Eltern sollen sich nicht für mich schämen.«
    Man musste, wie gesagt, einiges dafür tun, Profifußballer zu werden. Also verbrachten wir viel Zeit auf dem Gummiplatz hinter der Hauptschule. Richtige Tore gab es dort keine, stattdessen stellten wir links und rechts leere Konservendosen auf, das genügte uns. Der Gummiplatz war nicht nur einfach ein Sportplatz, sondern ein Schmelztiegel der Pirmasenser Kulturen. Deutsche, Kosovo-Albaner, Russen, Franzosen, Araber und alles andere, was in der Kleinstadt herumlungerte, versammelte sich auf dem weichen, mattroten Untergrund. Wir unterhielten uns, teilten unsere Brote, machten Späße miteinander, doch immer, wenn ein Spiel anfing, hörte der Spaß auf. Dann gingen wir an die Front, die Deutschen auf die eine, die Ausländer auf die andere Seite. Das war irgendwie ganz selbstverständlich, keinem kam in den Sinn, daran etwas zu ändern.
    Trotzdem fragte ich mich, wer auf die Idee gekommen war, Mannschaften aus nur deutschen und nur ausländischen Spielern zu bilden und diese immer bloß gegeneinander antreten zu lassen. War das vielleicht ein natürlicher Vorgang, wie die ersten Schritte eines Kindes? War es die mechanische Einordnung in eine Gruppe? Waren Ausgrenzen und Eingrenzen angeborene Instinkte, ohne die unsere Welt nicht funktionieren würde? Was wäre das für eine Welt, in der man einander anschaute und keinen Unterschied zwischen sich selbst und dem Gegenüber sah? Eine Welt, in der man in sich und in jemand anderen hineinschauen konnte und enttäuscht feststellen musste, wie jeder andere zu sein? Warmes Blut in den Adern und Mark in den Knochen – wie gewöhnlich. Eine Welt, die nichts mit unserer zu tun hatte, redete ich mir ein, und stellte mich selbstverständlich auf die Seite von Mirac, er stellte sich dorthin, wo Machmud stand, Machmud stellte sich zu irgendeinem anderen Ausländer – es war wie der

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