Massiv: Solange mein Herz schlägt
Dominoeffekt: Wenn ein Stein fiel, folgten ihm die anderen. Niemand sprach es an, und doch wusste jeder, dass es bei diesen Spielen um mehr als nur um Fußball ging.
Ich stellte mich ins Tor, und das Spiel ging los. Eine Gruppe Mädchen feuerte uns an. Machmud und Mirac, die ungeschicktesten Fußballspieler der Stadt, sausten über das Spielfeld, Alex und Leo, zwei Jungs aus der anderen Mannschaft, nahmen ihnen kurzerhand den Ball ab. Azem stürmte auf Leo zu, versuchte, den Ball in seine Gewalt zu bringen, beide krachten ineinander und brachen wie ein Kartenhaus zusammen. Machmud nutzte die hilflose Lage der beiden aus und schoss den Ball aufs Tor – unser Tor! Ich reagierte schnell, der Fußball prallte an meiner Faust ab und landete im hohen Bogen auf dem Dach eines Nebengebäudes der Schule.
»Du sollst in die andere Richtung schießen, wann kapierst du das endlich?«, brüllte ich. Wie sollte ich Profifußballer werden, wenn ich mit Amateuren trainieren musste? Ein Kreis hatte sich um Leo gebildet, der sein Knie festhielt. Leo schielte und trug deshalb eine runde Hornbrille, mit der er aussah wie eine Albino-Eule. Er hatte blütenweißes Haar, eine glatte Porzellanhaut und wirkte mit seinem feenhaften Körperbau zerbrechlich wie ein kleines Kristallfigürchen. Leo war ein ruhiger Junge, der jeden Tag auf den Gummiplatz kam, um Fußball zu spielen – vielleicht wollte er wie ich Profifußballer werden. Obwohl er beim Spielen seine Brille abnahm und sich dadurch in einen blinden Maulwurf verwandelte, war er ein besserer Spieler als Mirac und Machmud zusammen.
»Das hast du mit Absicht gemacht, Mann!«, jammerte Leo.
»Stimmt nicht!«, entgegnete Azem mit seinem unüberhörbaren albanischen Akzent.
»Ihr könnt nicht fair spielen«, verzog Leo sein schmales Puppengesicht.
»Was heißt hier ihr ?«, mischte sich Machmud in die Unterhaltung ein. Er war Araber und ein Jahr zuvor mit seiner Familie aus Landau nach Pirmasens gezogen. Machmud war das Gegenteil von Leo: Er war groß, breitknochig, dunkel und hatte pechschwarzes, stets nach hinten gegeltes Haar.
Machmud hatte die unverwechselbare, klare Stimme eines Anführers, die man in einer Menschenmenge immer raushörte. In Cliquen und Freundschaften gibt es immer Mitläufer und Anführer. Anführer geben die Richtung vor, sie schmieden die Pläne und wissen immer genau, was gerade zu tun ist. Mitläufer folgen dem Anführer, sie richten sich nach seinen Plänen und wissen nie genau, was gerade zu tun ist. Sie haben einen unsicheren Blick und eine holprige Stimme, sie können sich schwer durchsetzen und versuchen, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Einen potenziellen Anführer erkennt man schon im Sandkasten. Er nimmt den anderen die Schaufeln weg, zertritt Sandburgen, stopft die Mäuler der plärrenden Kinder mit Sand – und am Ende des Tages geht er mit einer neuen Schaufel und fünf neuen Freunden heim. Anführer sind Sadisten, denn ohne Unterdrückung kann kein Heer geführt werden, und Mitläufer sind stille Masochisten, die sich gerne durch Gewalt führen lassen. So hat alles seine Richtigkeit. Machmud war ein geborener Anführer, der keiner Konfrontation aus dem Weg gehen konnte. Er brauchte den Konflikt wie ein Boxer den Ring, denn im Kampf konnte ein Anführer besonders glänzen.
»Na ihr alle – weil ihr nicht richtig spielen könnt, müsst ihr ständig foulen«, sagte Alex, Leos großer Bruder und der Kapitän der Gegenseite.
»Nur weil ihr bleiche Weicheier seid und bei jedem Schubs gleich umfallt, ist das nicht unsere Schuld!« Machmud schaute Leo von oben herab an, so wie ein König auf seinen Untertanen.
»Ihr seid selber Weicheier oder besser gesagt, braune Stummelschwänze«, machte sich Alex lustig, und die ganze Bande hinter ihm grölte mit. Die beiden Anführer zettelten mal wieder einen Streit an.
»Was meinst du damit?« Machmud sah Alex scharf an.
»Na, eure Schwänze werden doch geköpft.« Alex grinste.
»Besser als so ’n schrumpeliger Rüssel wie bei euch!«, rief Machmud – und schon war die nächste Prügelei im Gange. Machmud prügelte auf Alex ein, ich bekam die Faust eines Gegenspielers zu spüren und schlug kurzerhand zurück.
Ein Handgemenge zwischen zweiundzwanzig weißen Weicheiern und braunen Stummelschwänzen, mitten auf dem Gummiplatz. So was kam öfter vor. Es fing mit einer Lappalie an und endete in einer Massenschlägerei. Nach einigen blutigen Lippen und blauen Flecken gingen alle wieder ihrer Wege.
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