Massiv: Solange mein Herz schlägt
Resultat täglichen Krafttrainings waren.
»Es sollte ein Tier werden, ich mag Tiere«, sagte ich. Er nickte zustimmend, während er an der Bong zog, die daraufhin blubbernde Geräusche von sich gab. Dann stand er auf und drehte mir den Rücken zu.
»Siehst du das?« Er blickte mich über die Schulter an. Auf seinem Rücken prangte ein verstörendes Bild: Blut, Feuer, nackte Menschen, die von Dämonenwesen gequält wurden. Ein erschreckend fantasievolles Abbild der Hölle.
»Ja, hmm , also so etwas habe ich mir nicht gerade vorgestellt.« Ich kratzte meinen haarlosen Schädel und betrachtete seinen knöchrigen Rücken, auf dem ich gerade zwei überdimensionale Ohren, durch die ein Messer durchging, entdeckt hatte.
»Das ist die Hölle«, sagte er in einem bewusst rauen Ton.
»Ohren in der Hölle?«
»Das ist Kunst. Dieses Bild ist die Kopie einer Gemäldehälfte – kennst du Hieronymus?«
»Irgendwas mit einer Atombombe.«
»Nicht Hiroshima.«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Wie auch immer, das auf meinem Rücken ist von Hieronymus Bosch – Kunst.«
Bei genauer Betrachtung erkannte ich einen Menschen, der von einem Teufel eine Leiter hochgezogen wurde. Die Tätowierung war genauso merkwürdig wie der Tätowierer selbst.
»Sehr schön«, log ich.
»Was ich damit sagen will«, er setzte sich wieder und zog an der Bong, als würde er Mark aus einem Knochen saugen, »du solltest ein Motiv wählen, das zu dir passt.«
»Ich verstehe … naja … du hast dir etwas sehr Passendes ausgesucht.«
»Sieh mal, das war mein erstes Tattoo.« Auf seiner linken Brusthälfte war ein Bild der christlichen Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm.
»Ja … hmm … nicht ganz wie die andere Tätowierung.« Einen kurzen Moment überlegte ich, wieder nach Hause zu gehen und dann einen anderen Tätowierer zu suchen. Ich fragte mich, warum Drogen die Eigenschaft hatten, jeden Hornochsen in einen Philosophen zu verwandeln.
»Genau!«, er zeigte begeistert mit dem ausgestreckten Finger auf mich, als hätte ich soeben ein Mittel gegen Krebs erfunden.
»Darum geht es. Ich bin gut und böse, Himmel und Hölle – aber im Herzen bin ich ein Engel.« Er musste husten, weil ihm vor Euphorie der Rauch im Halse stecken blieb.
»Okay.«
»Mit dem ersten Tattoo verwandelst du deinen Körper in ein Bilderbuch, das von dir und deinem Leben erzählt, also überleg dir gut, wer du bist und was du erzählen willst.«
Ich überlegte einen Moment und fand plötzlich, dass der Verrückte gar nicht so Unrecht hatte. Überhaupt hatten Verrückte die Angewohnheit, unerwartet derart geniale Dinge von sich zu geben, dass man sich fragte, was eigentlich verrückt und was normal war.
»Ich will einen Tiger«, sagte ich entschlossen.
»Wohin?«
»Auf das Herz.«
»Gute Entscheidung.«
»Willst du nicht die Nadel vorher wechseln?«
»Das ist eine neue Nadel.« Ich schaute skeptisch auf das verrostete Metallding mit den verkrusteten Blutresten auf der Spitze.
»Bist du aber pingelig – hier, nochmal extra für dich.« Er hielt die Nadelspitze in eine Flasche Desinfektionsmittel, dessen Inhalt längst nicht mehr die sterile bläuliche Farbe hatte.
»Es wird kurz wehtun, aber du bist ja ein Tiger, und ein Tiger kennt keinen Schmerz.« Anscheinend war das ein allgemein bekannter Satz, den Menschen sagten, bevor sie einem Schmerzen zufügten. Die Nadel bohrte sich in mein Fleisch, und ich biss die Zähne zusammen. Als er fertig war, konnte sich das Ergebnis sehen lassen: ein blutiger Tigerkopf auf meiner linken Brusthälfte.
»Fertig.«
»Willst du das nicht abdecken?«
»Womit?«
»Keine Ahnung, Folie oder so?«
»So was hab ich nicht.«
Als meine Mutter zu Hause die Tür öffnete, schaute sie entsetzt.
»Was ist das?«
»Was?« Ich sah an mir herunter und erst da fielen mir die linienförmigen Blutabdrücke auf meinem T-Shirt auf. Ich hatte eigentlich gehofft, die Tätowierung so lange wie möglich vor meinen Eltern geheim halten zu können.
»Du blutest unter deinem T-Shirt.«
»Ich habe mich tätowieren lassen.«
»Was?«, schrie meine Mutter. Mit taumelnden Schritten ging sie in die Küche und sackte auf einem Stuhl zusammen. Ich folgte ihr.
»Mama, alles in Ordnung?«
»Wie konntest du mir das nur antun?«
»Es ist doch bloß ein Tattoo.«
»Sieh dich an: Arme wie ein Ochse, kahl wie ein Soldat und jetzt noch tätowiert wie ein Sträfling, jallah, jallah – was ist aus dir geworden? Du bist nicht mein Sohn!«
»Es
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