Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
Vom Netzwerk:
Geld zu verdienen. Meine Freunde taten irgendwas, um Geld zu verdienen. Ich tat irgendwas, um Geld zu verdienen. Alle taten irgendwas, jeder auf eine andere Weise. Irgendwann fragte ich mich, was das für eine Welt war, in der es nur darum ging, Geld zu verdienen, selbst wenn man dafür Dinge tun musste, die einem eigentlich zuwider waren. Aber was sollte ich sonst tun? Mich damit abfinden, etwas für den Rest meines Lebens zu tun, worauf ich gar keine Lust hatte, nur weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte? Oder mich weiterhin mit kleinkriminellen Machenschaften über Wasser halten und als Abschaum der Gesellschaft deklariert werden? Nein! So wollte ich nicht enden. Ich war für Höheres bestimmt. Meine Zeit würde noch kommen, dachte ich mir und schwor mir hoch und heilig, nie wieder etwas zu tun, das ich nicht tun wollte.
    Drei Monate später nahm ich einen Vollzeitjob als Lagerarbeiter an.
    Wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat, ohne etwas erreicht zu haben, macht man lieber irgendwas anstatt nichts. Für sechs Monate hörte ich auf zu träumen. Ich stand um sechs Uhr in der Früh auf, fuhr mit dem Bus zur Arbeit und grüßte freundlich meine Kollegen. Ich arbeitete acht Stunden täglich, fünfmal die Woche, insgesamt hundertsechzig Stunden im Monat – hundertsechzig Stunden im Monat musste ich etwas tun, das mir zuwider war. Am Ende des Tages rief ich Bella an und war froh, Sätze wie »Ich bin müde« oder »Ich muss morgen früh aufstehen« sagen zu können. Es war schon schlimm genug, acht Stunden am Tag etwas tun zu müssen, worauf ich keine Lust hatte – ich musste nicht auch noch die restlichen Stunden mit einem Mädchen verbringen, auf das ich keine Lust hatte.
    Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, legte ich mich, wie Baba, auf die Couch, schaltete den Fernseher ein, blieb liegen, bis die Dämmerung anbrach und es Zeit wurde, schlafen zu gehen. Ich war zu müde, zu beschäftigt und zu realistisch, um noch zu träumen. Tat ich es doch, verspürte ich einen Knoten im Hals und fühlte, wie qualvoll es sein konnte, an Unerreichbares zu denken. So wie ich mich an das schlechte deutsche Wetter und an Bella gewöhnt hatte, gewöhnte ich mich auch an den Gabelstapler, an die unmotivierten Mitarbeiter und die Monotonie in meinem Leben. Jeden Mittag aß ich selbst geschmierte Brote oder ein halbes Hähnchen mit vor Fett triefenden Pommes Frites, das ich mir vom Imbiss nebenan holte. Jeden Tag betätigte ich dieselben Hebel und Schalter, mein Gabelstapler fuhr immer dieselbe Stecke, und ehe ich mich versah, hatte ich mich damit abgefunden, das bis ans Ende meiner Tage zu machen. Ich hatte ein Bild von mir selbst, wie ich, in zwanzig Jahren, in meinem kleinen gelben Gabelstapler sitzen und der Platz immer enger werden würde, weil ich im Laufe der Zeit von zu vielen Pommes rot-weiß eine kleine Wampe bekommen hatte. Auf meinem Kopf würde sich eine kahle Stelle, wie das Verdeck eines Cabriolets, bemerkbar machen, weil zu Hause eine unzufriedene Frau – wahrscheinlich Isabella, zwanzig Kilo schwerer und zwanzig Jahre verbitterter – und lauter unbezahlte Rechnungen auf mich warteten.
    Ganze sechs Monate hielt ich durch. Dabei hätte ich auch ein ganzes Leben durchgehalten, wenn mich mein Chef nicht eines Tages zu sich ins Büro gerufen und mir meine Kündigungspapiere in die Hand gedrückt hätte. Er saß an seinem Schreibtisch und trank einen Becher schwarzen Kaffee. Ein freundlicher, älterer Mann mit ergrauten Haaren und langen Koteletten, der nachsichtig mit seinen Mitarbeitern war und hin und wieder einmal ein Mittagessen ausgab.
    »Was, Sie feuern mich?« Ich war entsetzt, ich hielt mich für den besten Mitarbeiter im Betrieb. Er nickte mit geschlossenen Augen und kniff die Lippen zusammen, wie ein Arzt, der mir gerade die Nachricht übermittelte, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden.
    »Ja, leider.«
    »Aber warum?«
    »Herr Taha, ich kann Sie gut leiden, aber Sie sind dem Beruf nicht gewachsen.«
    »Sie sind dem Beruf nicht gewachsen« – ich musste Porschespiegelrahmen vom Container ausladen und mit dem Gabelstapler in die Lagerhalle transportieren. Das war’s. So endete Job Nummer sechs. Ich stapfte fünfzehn Runden um den Block, bis ich mich dazu durchringen konnte, nach Hause zu gehen. Es war beschämend. Wie sollte ich meinen Eltern erklären, dass ich gefeuert wurde? Meine Mutter öffnete die Haustür. Ich wollte sie anlügen, ihr von meinem spannenden Arbeitstag

Weitere Kostenlose Bücher