Massiv: Solange mein Herz schlägt
erzählen, wobei das Spannendste war, dass Stefan, einer meiner Kollegen, der nur im betrunkenen Zustand zur Arbeit kam, auf der Mitarbeitertoilette eingeschlafen war und erst nach stundenlanger Suche wiedergefunden werden konnte. Ein Alkoholiker war dem Beruf gewachsen und ich nicht. Was sollte ich davon halten?
»Ich wurde rausgeschmissen«, schoss es aus mir heraus, weil ich Mitleid wollte, Mitleid von meiner Mutter, weil sie einen Versager auf die Welt gebracht hatte.
»Warum?«
»Ich bin dem Beruf nicht gewachsen.«
»Du solltest doch bloß einen Porsche hin- und herfahren, nicht den Palästinakrieg beenden.« Meine Mutter verdrehte die Augen.
»Porschespiegelrahmen.«
»Was?«
»Ich sollte Porschespiegelrahmen hin- und herfahren. Sag mal, Mama, weißt du nicht, was ich seit Monaten mache?«
»Porsche, Spiegel, Rahmen – alles dasselbe. Du solltest sie doch nur von einem Ort zum nächsten bringen. Was ist daran so schwer? Unsere Katzen können etwas von einem Ort zum nächsten bringen. Jallah, jallah …« Mama schüttelte den Kopf.
Das war ein Knockout. Meine Mutter hielt mich für einen Idioten. Wenn deine eigene Mutter dich für einen Idioten hält, bist du wirklich verloren, denn Mütter versuchen immer, das Beste in ihren Kindern zu sehen.
Mama sortierte die Lebensmittel aus den Einkaufstüten. Käse, Hackfleisch und Brot landeten mit einem Rumps auf dem Tisch. Ich wusste, Mama war wütend, und wenn Mama wütend war, mussten Lebensmittel leiden. Auch ich war wütend, wütend auf mich, weil ich meine Mutter enttäuscht hatte und zu dem geworden war, was Baba immer prophezeit hatte: zu einem Nichtsnutz. Ich wollte nie so enden wie Baba, doch es war viel schlimmer gekommen: Ich hatte es nicht einmal geschafft, wie Baba zu werden. Baba hatte seit Ewigkeiten einen festen Job, er zählte zu den besten Mitarbeitern im Betrieb – dabei konnte er kaum Deutsch –, während ich »dem Beruf nicht gewachsen« war. Ich war nicht einmal gut darin, irgendwas zu tun. Am nächsten Tag musste ich unbedingt mit meinem Chef sprechen und ihn dazu überreden, mir noch eine Chance zu geben. Ich würde auch eine Umschulung machen, sofern es für Lagerarbeiter Umschulungen gab, und härter und besser arbeiten, sofern es Verbesserungsmöglichkeiten beim Transport von Porschespiegelrahmen gab.
Genau das würde ich morgen tun. Während ich das dachte, hörte ich eine Stimme: »Sei froh, dass du da nicht mehr hingehen musst, du hast diesen Job gehasst. Du hättest als ein Niemand gelebt und wärst als ein Niemand gestorben.« Ich wusste nicht, woher diese Stimme kam, doch ich war mir sicher, dass nur ich sie hören konnte. Ich wollte widersprechen, klarmachen, dass ich mich an meinen Job gewöhnt hatte und es das Beste für mich war, weil es besser war, irgendwas anstatt nichts zu tun, doch die Stimme kam mir zuvor.
»Das ist alles? Du hältst es für das Beste, etwas aus Gewohnheit zu tun? Irgendwas anstatt gar nichts? Man sollte sich nur an das gewöhnen, was man nicht ändern kann, und weder irgendwas noch gar nichts tun, sondern das, was man tun will.« Ich wurde hellhörig, diese Stimme sagte die Wahrheit.
»Das Cabriolet auf deinem kahlen Schädel kann doch nicht alles sein, was du dir für deine Zukunft wünschst?«
Diese Stimme war verdammt weise, und ich fragte mich, woher sie kam, warum ich sie nie zuvor gehört hatte und ob auch andere Menschen diese Stimme hörten.
»Ich komme aus deinem tiefsten Inneren, und ich bin immer da gewesen, wenn du mir zuhören wolltest. Alle können die Stimme hören, aber nur die wenigsten hören zu. Sie hören lieber auf ihre Vernunft, auf die Regeln der Gesellschaft oder was andere für das Beste für sie halten. Jedem, außer mir, gerecht werden zu wollen, ist ein Verrat an dir selbst. Bis jetzt warst du ein Verräter, und es wird Zeit, dich selbst infrage zu stellen!«
Ich wollte von der Stimme wissen, was ich tun solle, und sie antwortete nur: »Lebe deine Träume!«
Ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte. Wie durchbricht man die Routine? Wie schlägt man einen neuen Weg ein, wenn man das Ziel nicht kennt? Wie erklärt man es den anderen? Wie lebt man seinen Traum?
»Denkst du, du bist der Einzige, der sich diese Fragen stellt? Jeder hat Träume, Menschen brauchen Träume, um sich lebendig zu fühlen, doch nur die wenigsten sind bereit, für ihre Träume zu kämpfen. Denn dann müssten sie Risiken eingehen und Verluste hinnehmen. Träumer werden ausgelacht,
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