Massiv: Solange mein Herz schlägt
begriffen, wie schnell alles vorbei sein konnte. Ich musste die Handbremse ziehen, andernfalls würde auch ich, früher oder später, in einer Zelle verfaulen. Ich entschied mich für das gutbürgerliche Leben, fand aber keinen echten Gefallen daran, Fliesen aneinanderzulegen oder Wände anzustreichen, und hielt deshalb nie länger als drei Wochen an einem Arbeitsplatz durch.
Es war Mirac, der Zweifel säte an meinem Entschluss, ein normales Leben zu führen. Er bohrte sich so lange mit Sätzen wie »Willst du wirklich das dein gesamtes Leben lang machen?« oder »Das hätte ich nicht von dir erwartet« in mein Bewusstsein, bis er auf fruchtbaren Boden stieß. Ich wollte wissen, was er sonst von mir erwartet hätte, und er antwortete: »Alles, außer ein verkacktes, gutbürgerliches Leben. Du kannst doch nicht mit einem Tiger auf der Brust rumlaufen und leben wie eine Miezekatze!« Er ballte dann die Fäuste und spornte mich an, wie bei einem Wettkampf: »Du hast dieses Feuer in den Augen – damit kannst du die Welt erobern!« Mit seiner Euphorie steckte er mich an, und ich rief: »Ja! Zum Arsch mit dem gutbürgerlichen Leben!«
Meistens endete das Szenario damit, dass ich meinen Chef anrief und wie berauscht in den Hörer rief, er könne sich seinen Job und sein gutbürgerliches Leben in den Arsch stecken. Dann klopfte mir Mirac auf die Schultern und gratulierte mir, weil ich mich soeben wie ein richtiger Tiger verhalten hätte. Ich ging nach Hause, arbeitslos, mittellos, ohne jede Zukunftsperspektive, aber aufgepumpt mit Selbstbewusstsein und bereit, die Welt zu erobern – ohne zu wissen wie.
Mit der Eitelkeit und den Menschen verhält es sich eben wie mit einem jungen Vögelchen: Je mehr man es füttert, desto schneller wächst es heran. Ist der Vogel bereit zu fliegen, kann er dem Himmel näher als jedes andere Wesen kommen, ist er übermutig und ziellos, wird er abstürzen und sich das Genick brechen.
Als ich meine fünfte Ausbildung, dieses Mal als Lackierer, geschmissen hatte, ging ich nach Hause, verkündete meiner Mutter: »Ich habe meinen Job hingeworfen!«, und umarmte sie glücklich.
»Und darauf bist du stolz?« Mama löste sich aus meiner Umarmung.
»Ja, das ist nichts für mich.«
»Was?«
»Dieses gutbürgerliche Leben.«
»Was ist so schlimm an einem gutbürgerlichen Leben? Das ist doch das, was alle wollen. Es ist besser als Armut und Krieg.«
»Besser als der Krieg, aber kein Leben für mich, außerdem bin ich nicht alle.«
»Was bist du dann?«
»Etwas Besonderes, und besondere Menschen tun besondere Dinge.«
»Die wären?«
»Ähm, also … ich … denke darüber noch nach.«
»Du brichst deine Ausbildung ab, weil du besondere Dinge tun willst, und weißt nicht, welche das sein sollen? Jallah, jallah.« Meine Mutter verunsicherte mich.
»Naja …«
»Was machen Pfeil und Bogen zu einer Waffe?«, fragte Mama, und ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
»Je spitzer der Pfeil und je gespannter der Bogen, desto besser kann man damit schießen?«
»Aha, und was noch?«
»Was meinst du?« Ich verabscheute solcherlei Fragen. Rhetorische Fragen, auf die Eltern überhaupt keine Antwort hören wollten, sondern nur stellen, um ihre Kinder vorzuführen.
»Was nützen der gespannteste Bogen und der spitzeste Pfeil, wenn der Schütze das Ziel nicht kennt?« Wieder so eine scheißrhetorische Frage, ärgerte ich mich.
»Ich verstehe, Mama.« Zustimmen und nichts sagen, damit lag man bei Eltern immer goldrichtig.
»Mag sein, dass du etwas Besonderes bist. Für mich wirst du immer etwas Besonderes sein, weil du mein Sohn bist, aber du bist ein zielloser junger Mann – wie ein Schütze, der sein Ziel nicht kennt und Pfeil und Bogen in nutzlose Werkzeuge verwandelt. Du faselst ständig davon, nicht das tun zu wollen, was normale Menschen tun, weißt aber nicht, was das, was du tun willst, sein soll. Du behauptest, etwas Besonderes zu sein, weißt aber nicht, warum. Hochmut kommt vor dem Fall, mein Sohn.«
»Ich habe schon verstanden, Mama«, murmelte ich mürrisch. Meine Mutter lag gar nicht so falsch. Ich wollte Geld, Ruhm, Anerkennung und hatte keine Ahnung, wie ich das erreichen sollte. Ich war nichts Besonderes, sondern wie alle anderen Menschen da draußen, die von Dingen träumten, die außerhalb ihrer Möglichkeiten lagen. Und meistens, wenn Menschen merken, dass man mit Träumen keine Rechnungen bezahlen kann, tun sie einfach irgendwas. Meine Eltern taten irgendwas, um
Weitere Kostenlose Bücher