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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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Ich stöhnte entnervt.
    »Nein, so meine ich das nicht, aber ich verstehe nicht, was das für Probleme sind, die mich von meiner Arbeit abhalten.«
    »Viele Probleme. Probleme mit der Familie, der Gesellschaft, der Polizei, dem Staat, mit Drogen, mit Berlin – Berlin ist ein Problemkessel. Sieh dich doch mal um – sag mal, siehst du überhaupt hin? Du willst Berlin erobern und siehst nicht richtig hin, tztztz .«
    Entmutigt nahm ich die U-Bahn Richtung Wedding und fuhr wieder zu Ali. Fünf Monate waren vergangen, und ich hatte weder ein Album aufgenommen noch den Song geschrieben.
    Ein Jugendlicher mit zerzausten Dreadlocks spielte eine schiefe Melodie auf einer Mundharmonika, ich warf einen Euro in seinen Hut. Neben mir saß ein alter Mann mit weißem Haar und einem riesigen Zinken als Nase, der eine türkische Zeitung las und ein lautstarkes Selbstgespräch über den ehemaligen Präsidenten Atatürk führte.
    Die Bahn hielt an, die Türen gingen auf, der Mundharmonikaspieler und sein Schäferhund, dessen Fell über und über mit kahlen Flecken bedeckt war, stiegen aus, und neue Menschen stiegen ein. Vielleicht lag MC Basstard gar nicht so verkehrt. In letzter Zeit war ich so auf mich und meine Ziele fixiert gewesen, dass ich alles andere ausgeblendet hatte. Ich musste mich mehr mit den Menschen und der Stadt um mich herum beschäftigen, möglicherweise lag der Song nicht in mir, sondern in Berlin. Ich verließ die U-Bahn-Station und machte einen Spaziergang durch den Wedding. Ich ging unter einer stählernen Brücke durch, ein Junge, dessen langes bullterriergleiches Gesicht von einer fingergroßen Narbe durchzogen war, kreuzte meinen Weg. In einem Café gegenüber saßen zwei gellend lachende Männer, beide mit aufgeknöpften Hemden und haarigen Bäuchen, an einem Tisch, tranken schäumenden Ayran und aßen saftig triefenden Döner. Ein ergrauter Mann in einem graumelierten Anzug und mit passendem Hut saß mit einem melancholischen Gesichtsausdruck auf einer Parkbank, beobachtete das Geschehen und knetete langsam die Kugeln seiner Gebetskette, als könnte seine Umgebung nur noch von einem Wunder gerettet werden.
    Genauso grau wie sein Anzug waren auch die Plattenbauten um mich herum, die der gesamten Gegend eine triste, fast hoffnungslos verlorene Atmosphäre verliehen. Eine Frau in einem antiquierten bodenlangen Kleid und einem zotteligen Dutt kam mir entgegen, sie schob teilnahmslos einen Einkaufswagen vor sich her, in dem ein kleines, nur mit Windeln bekleidetes Kind saß und mit einer Rolle Alufolie spielte. Ein Auto mit undichtem Auspuff heulte die Straße entlang, jemand warf ein Sofa aus dem dritten Stock eines Hauses, es fiel krachend zu Boden und zersprang in seine Einzelteile. Ich war viele Male durch die Straßen des Wedding gegangen, aber nie zuvor hatte ich so viel gesehen. Jede Pore des Bezirkes sprach mit mir, und jede hatte ihre eigene Geschichte zu erzählen.
    Berlin war wie ein Kettenraucher, und der Wedding wie seine kranke Lunge. Über Jahre vergiftet und ignoriert zeigten sich jetzt die verheerenden Spätfolgen. Der Wedding war ein befallenes Organ in einem gesunden Körper. Bei Ali angekommen setzte ich mich an den Tisch und schrieb drauflos. Die Idee, einen gesellschaftskritischen Song, einen Song, nein, den Song über den Wedding zu machen, rammte sich in mein Gehirn wie der Stachel eines Skorpions. Ich schrieb die ganze Nacht, und herauskam das Ghettolied . Als ich fertig war, wusste ich, das war der Song .
    Am nächsten Tag fuhr ich, wie verabredet, zu Woroc. Ich berichtete euphorisch, dass ich endlich einen Hit geschrieben hatte. Aber als ich Woroc von dem Plot erzählte, nickte er nur gelangweilt und fragte, warum sich ganz Deutschland für den Wedding interessieren sollte.
    »Hier geht es nicht nur um den Wedding, sondern um Millionen Menschen, um eine Randgesellschaft, Parallelgesellschaft oder wie die Klugscheißer es auch nennen«, erklärte ich energisch, doch Woroc ließ sich nicht dafür erwärmen.
    »Kannst du nicht wie alle anderen Rapper über Drogen, Knast oder das harte Leben eines Gangsters rappen?«
    »Aber das ist doch das harte Leben. Hier leben Dealer, Arbeitslose, Junkies, Kriminelle, einer steckt den anderen an – und diese Probleme werden einfach ignoriert!«
    »Hör mal, du bist ein Rapper und willst nicht als Kanzler kandidieren. Der Wedding interessiert niemanden, glaub mir.«
    Woroc versuchte, mich mit einer Ausrede abzuspeisen, um zu verschwinden, doch ich

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