Matharis Kinder (German Edition)
wegzuschneiden.
Eine Stunde später kam ihre Tochter zurück. Marita bemerkte das Kind erst, als ein erstickter Aufschrei an ihr Ohr drang. Schnell warf sie die Schere in die Schüssel und schloss das zitternde Mädchen fest in ihre Arme.
„Ja, es ist furchtbar, ich weiß“, flüsterte sie über dem dunklen, an ihre Brüste gedrückten Wuschelkopf, „es ist schrecklich, dass ein Mensch so zugerichtet wird. Dabei hat er wahr scheinlich gar nichts Böses getan. Aber jetzt, mein Schatz, musst du mir helfen. Allein schaffe ich es nicht. Miteinander können wir vielleicht sein Leben retten.“
Da löste sich die Tochter von der Mutter, putzte sich die Nase und nickte tapfer. Sie wusste, was zu tun war. Sie hatte es schon oft getan. Sie und ihre Mutter waren ein gut eingeübtes Gespann.
So nahmen die Frau und das Kind den Kampf um das Leben des Fremden auf.
Abwechslungsweise wachten sie an seinem Lager. Tag und Nacht. Meistens gab es nichts weiter zu tun, als seine Hand zu halten oder seine fieberglühende Stirn zu kühlen. Und immer und immer wieder diese grässlichen Wunden zu waschen und neu zu verbinden. Zentimeter um Zentimeter zogen Mutter und Tochter den Mann vom Abgrund des Todes zurück.
Die Wunden blieben sauber, fingen allmählich an, sich zu schließen. Auch das Fieber begann zu sinken.
Dennoch schien der Geist des Kranken den Weg in die Gegenwart nicht mehr zu finden.
Nicht genug des vergangenen Horrors, schien ihn der arme Mann immer und immer wieder von neuem erleben zu müssen. Als ob seine Seele in eine Zeitschleife geraten wäre, aus der es kein Entrinnen gab.
Manchmal schlug er um sich, sodass die noch kaum geschlossenen Wunden wieder aufzubrechen drohten. Marita und ihre Tochter hatten dann alle Mühe, den tobenden Mann festzuhalten. Viel schlimmer war das Wimmern, wenn er mit auf gesprungenen Lippen seine Peiniger um Gnade anflehte. Stundenlang. Tage lang. Nächte lang.
In einer dieser Nächte, als Marita zum ungezählten Male versuchte, ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen, wurde ihr plötz lich klar, was sie zu tun hatte.
Leise schlüpfte sie aus ihren Kleidern und kroch unter die Decke zu dem fiebernden Mann. Drückte den schweißnassen, zitternden Körper fest an sich. Flüsterte, sang leise in sein Ohr. Wiegte ihn in ihren Armen. Schluchzte hinter seinem Rücken.
Waren es diese Tränen, die seinen Geist schließlich zurückholten?
Marita spürte, wie das Zittern allmählich verebbte. Das Wimmern wurde leiser und verstummte.
Dann drehte sich der Mann zu ihr.
In der verschwiegenen Dunkelheit der Nacht trafen sich ihre Körper, sanft, behutsam und spendeten sich Zuneigung, Zärtlichkeit und Trost.
Drei Wochen später war der Fremde so weit genesen, dass er sich auf seine Flucht vorbereiten konnte.
„Du weißt, dass ich fortgehen muss.“ Keine Frage. Eine traurige Feststellung.
Marita neigte den Kopf und schwieg.
Da nahm er ihr Gesicht in seine Hände und zwang sie sanft, ihn anzusehen. „Du weißt nicht, wer ich bin. Glaube mir, das ist gut so. Eines Tages werden die Königstreuen diesen Ort vielleicht doch finden. Ich muss retten, was ich weiß. Solange sie dieses Wissen noch nicht haben, besteht noch Hoffnung für unsere Heimat.“
Nicht eine einzige Träne war in Maritas Augen zu sehen.
„Ich weiß nur, dass du der Mann bist, den ich liebe“, flüsterte sie tonlos.
Federleicht strichen ihre Hände über seine schmalen Wangen. Dieser seltsame Schimmer, den alle Kleinen Leute auf der Haut hatten … bis ans Ende ihrer Tage würde sie sich daran erinnern, wie sein Körper im Mondlicht der letzten Nacht geleuchtet hatte.
Noch vor Tagesanbruch spürte Marita, wie sich der Ge liebte neben ihr erhob. Lautlos machte er sich reisefertig.
Sie hielt ihre Augen fest geschlossen. Sie wusste, sie würde ihn nicht gehen lassen, wenn sie auch nur die kleinste Bewegung zuließ.
Leise fiel die Türe ins Schloss.
Jetzt erst erlaubte sie sich zu weinen.
Einige Zeit nach Janaels Flucht häuften sich die Besuche in Maritas Haus. Es kamen Männer und Frauen, die den Weg über die Sümpfe nicht nur einmal wagten, sondern jedes Mal in ihre angestammten Dörfer und Höfe zurückkehrten.
Das unschätzbare Geschenk eines Unbekannten machte dies möglich. In der Nacht vor seiner Flucht hatte Janael der geliebten Frau das bisher nur den Blumenhütern bekannte Geheimnis der Sicheren Pfade verraten.
So wurde Maritas Küche zur Geburtsstätte des lopunischen Aufstandes. „ Diera
Weitere Kostenlose Bücher