Matharis Kinder (German Edition)
Schließlich lud Torian sich den stämmigen Mann auf die Schultern.
Am Nachmittag erreichten sie eine Lichtung, auf der goldüberhauchtes, sonnenwarmes Gras sie will kommen hieß.
Mit einem Seufzer unsäglicher Erleichterung ließ Torian seinen Gefährten von den Schultern gleiten. Er merkte kaum noch, wie er selbst zu Boden sank. Wenige Augenblicke später war er in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.
Keines Menschen Auge sah, wie in dieser Nacht hoch über dem schwarzen Dach des Waldes eine leuchtend weiße Gestalt erschien.
Als wollte sie den Schlaf der drei Winzlinge für eine Weile bewachen, kreiste sie, einem gefiederten, geflügelten Luftschiff gleich, eine Weile unter den Sternen und verschwand danach wieder, ebenso lautlos und unbemerkt, wie sie gekommen war.
Sechzehn Stunden später blinzelte Torian mit verschlafenen Augen in einen erwachenden Morgen.
Sein erstes Gefühl war Dankbarkeit für seine Decke, die sich warm unter sein Kinn schmiegte. Er erinnerte sich nicht daran, sich eingehüllt zu haben. Das musste Janael getan haben. Der alte Mann hatte sich gestern noch lange keine Ruhe gegönnt. Davon erzählten das zwischen zwei Bäumen ge spannte Seil, dazu eine erkaltete Feuerstelle: der Platz, wo er Parikos Kleider getrocknet hatte. Torian wusste, wie viel Zeit so eine Prozedur in Anspruch nahm. Von allem hatte er nicht das Geringste mitbekommen.
Wo war der alte Mann überhaupt?
Nach genauerem Hinsehen entdeckte er ihn. Dort am Rande der Lichtung kniete er. Seine reglose Gestalt verschmolz mit den Büschen.
Torian erhob sich hastig, eilte zu dem Gefährten.
„Alles in Ordnung mit dir?“ fragte er besorgt.
„Siehst du das, mein junger Freund? Siehst du das?“ Janaels Flüstern war kaum hörbar. Seine Hand strich über ein Goldauge, dessen Blütenstern noch ge schlossen war. Wie die meisten anderen Blumen wartete es auf die ersten Sonnenstrahlen, um sich zu öffnen.
Jetzt erst bemerkte der junge Blumenhüter, was ihm gestern vor lauter Müdigkeit entgangen war: die ganze Lichtung war übersäht mit Blumen. Da waren nicht nur Gold augen, auch Himmelsglocken, Blausterne – und jede Menge Mathari-Blumen! Die ganze wunderbare Vielfalt der Blumenkinder hatte sich auf diesem Flecken Erde versammelt, um den neuen Tag zu preisen.
Janaels Lächeln schien bis auf den Grund von Torians Seele.
„Die Königstreuen sind noch nicht über die Sümpfe gekommen“, flüsterte der alte Mann. „Das bedeutet, die beiden könnten wirklich noch am Leben sein.“
Torian wagte nicht, zu fragen, wen Janael meinte.
“Ja, eine Frau und ihr Kind“, erklärte der alte Mann, „die Menschen, die mir das Leben gerettet haben. Bevor wir in die Berge gehen, werden an ihrem Haus vorbeikommen. Bestimmt helfen sie uns, unseren kranken Freund wieder auf die Beine zu bringen. Das heißt, wenn sie noch da sind ...”
Die letzten, kaum hörbaren Worte klangen weh mütig. In ihnen lag ein Geheimnis, das lange in einem von Trauer erfüllten Herzen gehütet worden war.
NEUN
Dreißig Jahre lang war Janael diesen Weg in seinen Träumen gegangen. Nacht für Nacht hatte er dieselbe Pilgerfahrt unternommen. Nie war er weiter gekommen als bis zu dieser Stelle. Hier endete der Wald. Hier endete auch der Traum. Hinter den Bäumen lauerten zwei Schatten auf ihn. Ein dunkles Geschwisterpaar, das eine zarte, durchscheinend gewordene Elfe mit gefesselten Flügeln zwischen sich gefangen hielt.
Die Schritte des alten Mannes wurden langsamer.
Die Elfe weinte. Seit dreißig Jahren weinte sie. Nun hatte das Warten ein Ende. Bald würde Janael Gewissheit haben. Dann würde die Elfe ihre Frei heit zurückbekommen. Oder sterben.
Er trat aus dem Wald. War das Haus noch da. Und die Blumen? An die Blumen erinnerte er sich deutlich. In Schalen und Töpfen jeder Größe und Gestalt hatten sie geblüht und die rohen Mauern in das farbenprächtige Gewand einer Märchenfürstin gehüllt. Ein Willkommensgruß von königlicher Freundlichkeit für jeden, der aus dem Schatten des Waldes trat.
Jetzt fanden Janaels Augen keine Blumen.
In erbarmungswürdiger Nacktheit schmiegte sich das Haus in das karge Grau-Grün des Geländes, als wäre es ein versteinertes Tier. Doch aus dem Kamin stieg Rauch. Auch Ziegen waren immer noch da. Ein gutes Stück weit vom Haus entfernt grasten sie. Das bedeutete, in dem Haus lebte jemand. Warum wurden Janaels Beine auf einmal so schwer?
Die Tür war nur angelehnt. Aus dem Innern des
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