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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Augen.
    Manchmal setzt sich der Gedanke in meinem Kopf aus zwei Gedanken zusammen, die das genaue Gegenteil voneinander sind.
Ich wünschte, meine Mutter wäre tot
, ist der erste Gedanke. Der zweite ist:
Alle wären tot, nur sie nicht.
    «Lass mich dir helfen», sage ich und versuche, ihr das Tuch ausder Hand zu nehmen, aber sie sagt: «Fass es nicht an.» Dabei zieht sie es weg, als wollte ich ihr ihren Diamantring stehlen.
    «Ma, ich will dir helfen», sage ich. Und das meine ich ernst. Bei dem Saustall hier brauchte es eine richtige Gemeinschaftsaktion, um alles wieder auf die Reihe zu bringen. Aber sie schüttelt nur den Kopf und verfällt in ihr gewohnheitsmäßiges Gemurmel. Das ist ihr neuester Tick. Das und halbe Sätze. Sie fängt an, etwas zu sagen, aber dann bringt sie es nicht zu Ende.
    «Ich lege etwas Musik auf», sage ich.
    Früher legten wir Musik auf, und dann machten wir Hausputz zu dritt, Ma, Helene und ich. Wir wischten die Tischbeine und die Schnörkel an den Stühlen und die Falten der Lampenschirme ab. Wir polierten sogar die Schachfiguren. Wie Ma jetzt putzte, taugte es meiner Ansicht nach zu gar nichts. Sie schob den Staub im Grunde nur herum. Allein der Anblick brachte mich zum Kochen. Ich versuchte noch einmal, ihr den Lappen wegzunehmen.
    «Hör auf», sagt sie.
    «
Herrgott noch mal, hör auf!
»
    Da tat ich es, ich rannte nach oben und ging an Mas Kleiderschrank. Ich fand die Plastiktüte ganz hinten versteckt. Ich zog eine der Tonbandaufnahmen heraus, die Pa vor tausend Jahren mit seinem alten Gerät gemacht hatte. Und ehe ich mich versah, war ich wieder unten, legte das Band in die Stereoanlage ein und drückte PLAY . Ich drehte die Lautstärke auf, so weit es ging.
    Zugegeben, als Helenes Stimme aus den Lautsprechern kam, war ich nicht mehr sicher, das Richtige getan zu haben. Es war eine Kinderstimme. Helene klang wie neun oder zehn. Ma war wie vom Donner gerührt. Ich hatte das Bild vor Augen, wie Wollmammuts einfach in Teergruben versinken, sobald sie aufhören zu strampeln. Mein Blick hing an Mas Händen, um zu sehen, ob sie zitterten.Aber mir selbst zitterten die Hände. Ich lehnte mich an die Stereoanlage, damit ich nicht umkippte.
    Ma sah mich an und lächelte das seltsame Lächeln der Alkoholiker, als hätte sie Zahnschmerzen. Vielleicht war es gar kein Lächeln. Egal, der Ausdruck in ihrem Gesicht machte mir Beine. Ich stellte das Band aus, so schnell ich konnte.
    Mit ihrem Lächeln, oder was immer es für eine Zerrung im Gesicht sein mochte, kam Ma auf mich zu. Jetzt setzt es was, dachte ich, gefasst auf die große Explosion, die alle Wände um uns herum zum Einsturz bringen würde. Aber was dann geschah, war noch schlimmer. Ma ergriff meine Hand und küsste sie. Sie drückte meine Hand an ihr Gesicht. Es war entsetzlich. Ich hätte in den Boden versinken mögen.
    «Hab keine Angst», sagt sie. Ihr Griff fühlt sich an, als könnte er mir die Knochen brechen.
    «Ich habe keine Angst», sage ich.
    «Man darf ruhig Angst haben», sagt sie.
    Ich frage mich, warum sie mir das jetzt sagt? Das hätte sie mir besser vor einem Jahr gesagt, zur Zeit meiner Albträume.
    Wenn ich jetzt Angst habe, geht sie das nichts an.
    «Niemand wird dir wehtun», sagt Ma. Ihr verzerrtes Lächeln verwandelte sich in etwas anderes. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die nicht flossen. Also doch wieder keine Tränen, nicht offiziell.
    «Ich muss Schularbeiten machen», sage ich und reiße mich los.
    «Mathilda», sagt sie.
    «
Mathilda.
»
    Muss das sein? Warum sagt sie meinen Namen so? Warum sagt sie meinen Namen überhaupt? Ich weiß, wie viel lieber sie einen anderen Namen sagen würde. Ich weiß, wie sehr sie wünscht, ein anderes Mädchen stünde im Raum. Stattdessen stehe ich hier, undwerde hier stehen, solange Ma lebt. Die falsche Tochter in Ewigkeit. Ich weiß, was sie im Herzen hat. Finstere Sachen, schlimmer als Wölfe. Die Erfindung von Helenes Geist ist genau das Fressen, das sie haben will. Und wenn es sie umbringt, was kümmert es mich? Sie lehnt schon über der Klippe. Sie fleht praktisch darum, dass jemand sie schubst.

    Als Pa in mein Zimmer kam, lag ich schon im Bett. Ich trug meinen roten Schlafanzug, es war wie eine Szene aus einem Weihnachtsfilm.
    «Bist du bereit für den Weihnachtsmann?»
    «O ja, Pa, ich kann kaum schlafen.»
    Nur sagten wir das natürlich nicht, oder glauben Sie das etwa?
    Pa kam herein und sah müde aus, wie immer. Müde ist nicht mal das richtige Wort.

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