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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Er sah
erschöpft
aus.
    «Hallo Pa», sage ich.
    Er setzt sich auf mein Bett.
    «Ich habe gelesen», sage ich, obwohl nirgendwo ein Buch herumliegt.
    Ich weiß, dass er sich fragt, ob ich ihn und Ma unten streiten gehört habe. Er sollte derjenige sein, der zuerst darüber spricht, also warte ich ab. Offensichtlich hat er den Kopf ziemlich voll. Er streicht mir übers Haar, aber er findet keine Worte.
    «Ma», sage ich schließlich.
    «Ich weiß», sagt er. «Sie macht eine schlimme Zeit durch. Wir müssen es ihr leicht machen.»
    «Ich ärgere sie nicht», sage ich.
    «Hör mal», sagt er und zwingt meine Augen wie ein Magnet in seine. «Du musst aufhören mit deinem Unsinn.»
    Er nimmt meine Hand. «Du willst sie doch nicht verlieren, oder?»
    Was ist denn das für eine Frage, denke ich.
    «Es ist nicht meine Schuld», sage ich. «Ich tue ihr nichts.»
    «Viele Leute sind verstört», sage ich. «Das ist eine Seuche, die ganze Welt ist krank.»
    «Wir sprechen nicht über die Welt», sagt er, «wir sprechen über deine Mutter.»
    «Ich weiß», sage ich. «Aber Helene …»
    «Was ist mit ihr?», sagt Pa. Er sieht mich an, als wäre er verwirrt, als hätte ich das Thema gewechselt. Aber nach meiner Vorstellung haben wir die ganze Zeit über nichts anderes gesprochen, von Anfang an.
    «Wir können nichts daran ändern», sagt Pa. «Wir können das alles nicht noch einmal durchmachen.»
    Aber haben wir es überhaupt durchgemacht? Wirklich?
    «Kleines, wir alle vermissen sie, wir alle …», er bringt den Satz nicht zu Ende.
    Ich sah, wie es Pa schmerzte, und dass mein Schmerz ein anderer war. Man spürte den Ozean zwischen uns, das große Wasser, dunkel und eiskalt. Hat jemand gesagt, Trauer sei eine Insel? Wenn nicht, sage ich es. Es ist meine Erfindung. Eines Tages können Sie es im Zitatenschatz nachschlagen.
    Trauer ist eine Insel. – Mathilda_Savitch
    Pa sieht mich an, und es wäre gelogen, zu behaupten, es sei keine Liebe in seinen Augen.
    «Könntest du lieb sein?», fragt er. «Könntest du bitte lieb sein?»
    Ich weiß nicht, wäre die ehrliche Antwort, aber ich sage Ja. Nicht ihm will ich das Herz brechen. Ich würde ihm gern tausend Fragen stellen, will ihm aber nicht wehtun mit den Gedanken in meinemKopf. Ich würde ihn gern fragen, was das für eine Mutter ist, die ihre Tochter in Sandalen aus dem Haus lässt, wenn es draußen friert?
    «Gib mir die Bänder», sagt er.
    «Nein», sage ich. «Bitte, Pa.»
    «Gib mir die Bänder», diesmal schließt er die Augen, als er es sagt.
    Ich hole sie unter meinem Bett hervor. Eine Plastiktüte mit Helenes Stimme drin. Warum habe ich sie nicht in Frieden in Mas Kleiderschrank gelassen? Jetzt ist sie wieder real, und damit kann Ma nicht leben. Ich kenne sie. Sie wird von Pa verlangen, dass er die Bänder wegwirft. Sie wird verlangen, dass er sie zerstört. Trotzdem, ich gebe ihm die Tüte. Ich halte es nicht auf. Es ist ein Schlag gegen mich in einem Buch, das irgendwer geschrieben hat. Die Wächter, Gott, Krishna. Sie alle wenden sich beschämt von mir ab.
    O Pa, ich möchte dir so viel erzählen. Und nicht nur über Helene. Auch über die Wächter und über Louis und alles, was ich im Fernsehen gehört habe, dass sie immer noch Menschen in den Trümmern finden. Manchmal finden sie nur Schuhe, manchmal nur einen Ring oder Zähne. Der Präsident kneift die Augen zusammen. Wir werden nicht ruhen, bis der letzte Mörder bestraft ist, sagt er.
    Als Pa aus dem Zimmer geht, denke ich an die Insel der Trauer. Ich frage mich, wie groß sie ist und wie lange ich brauchen werde, um sie zu erforschen. Ich frage mich, wie lange ich schon hier bin, ohne es überhaupt zu wissen. Wer weiß, vielleicht gibt es jemand anderen, der sich dort versteckt. Vielleicht sind Wilde im Gebüsch. Vielleicht Louis. Oder gar der Mann, der sie getötet hat. Jedenfalls bin ich bereit, wenn es zum Kampf kommt. Es ist noch nicht vorbei, Helene. Noch lange nicht.

Zwanzig
    Manchmal wünsche ich mir, ich hätte einen Gehirnschaden und nichts in mir als eine Spaßkanone. Früher wurden den Leuten Eispickel ins Gehirn getrieben, damit sie ihre schlechten Gedanken vergaßen. Auf dem Wissenschaftskanal habe ich mal eine ganze Sendung darüber gesehen. Damals war das ziemlich verbreitet, aber jetzt ist es verboten. Jetzt gibt es angeblich Pillen für alles. Aber offenbar ist die Wirkung nicht so genial, wie man es verspricht, sonst müssten alle wie Didel Dudel Da durch die Gegend laufen. Ich habe ein

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