Mathilda Savitch - Roman
WACHSAM , heißt es, aber das scheint nicht zu gelten, wenn es um jemanden geht, der gestorben ist. Wenn es um Tote geht, kann man sich nur einen Sack über den Kopf ziehen, steht im Knigge meiner Familie.
Aber inwiefern unterscheidet sich das, was Helene zugestoßen ist, vom Krieg? Sterbende Menschen und das schreckliche Geheimnis, warum. Seit ich geboren bin, ist immer Krieg gewesen, und eins kann ich Ihnen sagen: Es gibt immer einen Feind. Und wenn du nicht kämpfst, nehmen sie dir alles weg, sogar die eigene Schwester. Die Wahrheit ist, auch wenn niemand hinter ihr gestanden hat, hat sie doch jemand geschubst.
Plötzlich knipst Kevin eine kleine Taschenlampe an, und mir stockt das Herz. Habe ich vielleicht Selbstgespräche geführt, dass er mich gehört hat? Fast hätte ich seinen Namen ausgesprochen. Aber stattdessen kneife ich die Augen zu und atme ungefähr so wie jemand, der schläft. Wenn man Tierbeobachtungen machen will, muss man sich wie ein Stein in freier Wildbahn benehmen. So tun, als interessierte einen nichts.
Kevin bewegt sich ganz leise, und ich frage mich, ob es vielleicht so was wie Onanieren ist. In einem gewissen Alter soll das unter Jungen ziemlich verbreitet sein. Mit geschlossenen Augen höre ich jedes Knistern und Knacken. Ich höre das sanfte Rascheln derLaken. Auch oben sind Geräusche, ein leises Tapsen auf dem Boden wie wandernde Herzschläge. Ich kann nicht sagen, ob es die Frau ist oder der Hund.
Kevin steht auf, ich höre ihn. Er bewegt sich in meine Richtung, einen Schleichschritt nach dem anderen. Sogar auf Socken hört er sich an wie ein Riese. Er ist so nahe, dass mir ganz bange wird. Wie gut kenne ich ihn eigentlich? Seit der Festung sind Jahre vergangen. Und damals waren unsere Körper praktisch gleich. Ich spüre, jetzt steht er über mir. Ich spüre seinen blauen Schatten. Trotz meiner Angst beschließe ich, es ist Zeit. Ich muss es tun. Ich muss die Augen zu ihm aufschlagen. Ich muss
Ja
sagen,
wenn du willst, ich bin bereit
. Mich hingeben, was Ma sagte, wir dürften es nie tun. Ich hole tief Luft und mache langsam die Beine breit.
Aber da bewegt sich Kevin an mir vorbei, und als ich die Augen aufreiße, guckt er woanders hin. Er steuert auf Anna zu. Die kleine Stiftleuchte ist auf den Boden gerichtet. Im Dunkeln sieht ihr Strahl aus wie ein Zauberstab.
Manchmal passieren Dinge, die einen überraschen. Aber meistens passiert genau das, was man erwartet, geradewegs aus irgendeinem blöden Film. X wird sich in Y verlieben, das ist schon am Anfang klar. Je unterschiedlicher sie sind, je mehr sie einander hassen, desto besser.
Kevin setzt sich neben Anna. Er beobachtet sie. Er reibt sich die Hände, als wäre ihm kalt und sie ein Feuer, an dem er sich wärmt. Ich vermute, er ist verliebt. Oder schlimmer. Vielleicht ist es rein biologisch. Aber er klettert nicht auf sie, er berührt nur ihre Schulter, und als sie die Augen aufschlägt, macht er
pssst
. Ihre erste Regung ist, dass sie in meine Richtung sieht. «Mattie», wird sie gleich rufen. Aber sie ruft nicht. Ich frage mich, ob sie meine Augen sehen kann, direkt auf sie gerichtet.
«Sie schläft», flüstert Kevin.
Anna wendet sich ihm zu. Der Blick in ihren Augen lässt mich ahnen, dass es vielleicht ein anderer Film ist, als ich dachte. Gäbe es eine Musik dazu, müsste es wieder die aus dem Horrorfilm sein. Direkt vor dem Moment des Grauens. Ich warte nur auf Annas Schrei. Ich fühle ihr Herzklopfen wie mein eigenes. Ihr Mund öffnet sich, und ein Hauch gepresster Angst kommt heraus. Ich kann nur sagen, Kevin fürchtet sich genauso. Seine Hand ist nicht hundert Prozent sicher, als sie sich von ihrer Schulter löst und den Körper hinuntergleitet. Er macht es langsam wie ein Doktor. Anna atmet stockend, in Erwartung, dass er findet, wo es wehtut. Als er ihren Bauch berührt, schießt ihr Blick wieder zu mir rüber. Ich verstehe nicht. Ruft sie um Hilfe, oder vergewissert sie sich nur, dass ich schlafe?
Sie kann mich nicht sehen, beschließe ich, als Kevins Hand unter die Decke schlüpft. Anna schickt ihre eigene Hand schnell hinterher. Ich nehme an, um sich zu schützen. Sie schüttelt den Kopf, als Kevin sich über sie beugt. Sein Haar berührt sie zuerst. Blaues Haar auf dem weißen Hals. Er schwebt über ihr wie ein Vogel auf einer unsichtbaren Luftströmung. Seine Nasenflügel öffnen und schließen sich wie Blüten. Annas Lippen bleiben geschlossen. Erstaunlich, was man im Licht einer mickrigen Stiftlampe
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