Matrjoschka-Jagd
Liebeskummer ihr tatsächlich den Verstand geraubt?
»Hier«, hörte sie die Wirtin sagen. Sie stellte die Tasse geräuschvoll auf den Tisch.
Nore Brand hob kurz ihre Augen. Sie konnte sich nicht erinnern, einen Kaffee bestellt zu haben, aber sie bedankte sich mit einem Nicken. Sie riss die Zuckertüte auf und schüttete den Inhalt in die Tasse.
»Ich kenne niemand, der so wild in den Tassen rührt wie du.«
Nore Brand schaute Nino Zoppa erstaunt an. »Tu ich das?«
»Ja. Und das nervt total.«
»Aber es hilft beim Denken.«
»Du denkst schon wieder? Ich habe Mittagpause. Mein Gehirn steht auf Stand-by.«
Nach der Durchsuchung von Jelena Petrovics Zimmer hatte sie sich in der Hotelhalle hingesetzt, um sich ein paar Notizen zu machen. Auf einmal fühlte sie sich beobachtet. Sie hob ihre Augen und sah einen sonderbaren kleinen Mann, der sich ihr unbemerkt genähert hatte. Unter dem Arm trug er die Neue Zürcher Zeitung. Er lächelte sie entschuldigend an, als er an ihr vorbeiging. Im letzten Augenblick blieb er etwas abgewandt von ihr stehen. Er kratzte sich mit der Spitze des Zeigefingers verlegen am Kinn.
»Gehören Sie auch zu den liebenswürdigen Menschen dieser Welt, die meinen Tag unbedingt retten wollen?«
»Davon weiß ich noch nichts«, erwiderte Nore Brand überrascht. Sie lachte widerwillig.
»Das ist aber schade, und dabei habe ich geträumt, dass heute mein Glückstag ist.«
Sie schaute ihn genauer an. Was war das für ein Witzbold.
»Darf ich mich vorstellen? Jeremias Matthäus Simmer.«
Simmer, wiederholte sie für sich, Simmer. So hieß doch der große Künstler. Doch der war seit einigen Jahren tot.
Als er ihren Blick auffing, wehrte er ab. »Nein, ich bin nicht der große Isidor Samuel Simmer. Nur der kleine Bruder.«
»Brand«, sagte sie, »freut mich.« Ihren Vornamen konnte sie in diesem Fall ruhig verschweigen. Sie war keine Künstlerin.
Jeremias Matthäus Simmer? Einer der vielen kleinen Brüder dieser Welt. Er fristete schuldlos ein Schattendasein, weil der Ruhm dem anderen gehörte: Isidor Samuel Simmer. Das Aushängeschild der modernen Kunst. Weit über die Landesgrenzen bekannt und gefeiert. Sein Tod war das Ende einer Epoche gewesen. Und nun trat der jüngere Bruder hoffnungsvoll ans Tageslicht, um sein Talent zu zeigen?
Eine alte Geschichte. Er wird daran zerbrechen, weil der Tod den Mythos des Bruders übermächtig gemacht hatte.
»Ich habe nicht gewusst, dass Isidor Samuel Simmer einen Bruder hatte.«
»Zwei Schwestern und drei Brüder. Ich bin der Jüngste der Familie, der Einzige, der noch lebt. Emma Barbara, Amalia Viktoria, Isidor Samuel, Friedrich Maximilian«, er brach ab. »Ich will Sie nicht langweilen.«
»Das tut mir leid«, sagte Nore Brand, als ob sie ihn trösten wollte. Es musste an seiner hilflosen Art liegen, wie er vor ihr stand. Mit hängenden Schultern und bettelnden Augen. Ein Kind, ein kleiner Junge, der Familienjüngste, war alt geworden und beklagte sich darüber, dass für ihn nichts abgefallen war. Sie begriff, diesen Mann brauchte sie nicht zu bedauern, das tat er offensichtlich selbst und er schien darin sehr geübt.
»Ach was«, wehrte er ab, »das ist das Leben. Einer muss übrig bleiben und zum Erbe schauen.« Er setzte an zu einer großen Geste, die mitten in der Bewegung verunglückte. »Das sind alles meine Bilder.«
So sah er also aus, der Maler, der diese seltsamen Clowns geschaffen hatte. Er war ja selbst einer. Sie nickte ihm zu, in der Hoffnung, es würde auf irgendeine unbestimmbare Weise anerkennend wirken. Wie zeigte man einem Künstler, dass man seine Werke nicht besonders mochte, ohne seine zarte Seele zu verletzen? Er ließ seinen Blick über sein Werk gleiten. Seine Kordhose hing weit um seine mageren Hüften, das Hemd war eng und die Ärmel zu kurz. Die obersten Knöpfe standen offen und zeigten das spitze Schlüsselbein und einige graue Brusthaare. Die schwere Hornbrille hatte eine rote Rinne in seine weiche Knollennase gedrückt. Alkohol, dachte sie. Wer keine Muse hat, trinkt Alkohol. Vielleicht hat er sie darin ersäuft. Arme Muse.
»Heute Morgen habe ich zwei verkauft.«
»Ich gratuliere.«
»Ich weiß nicht«, sagte er zweifelnd, »es waren nicht meine eigenen. Mein Bruder hat mir eine ganze Reihe geschenkt und die Leute sind natürlich hinter denen her. In seiner letzten Lebensphase hat er gemalt wie ein Verrückter, Tag und Nacht. Er war ein Besessener. Auch das weiß die ganze Welt.« Er lächelte
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