Mattuschkes Versuchung
waren im letzten Jahr dazugekommen, ein warmes Gefühl der Zuneigung überflutete sie. Wie oft hatte er an ihrem Bett gesessen, wenn sie als Kind mit Fieberträumen kämpfte. Jetzt empfand sie es umgekehrt, er wurde zum Kind und sie zur Erwachsenen, die Trost spendet. Sie musste lächeln. Uns Kindern gegenüber war er ein wunderbarer Vater, sie würde ihm in Zukunft mehr Zeit widmen, nahm sie sich vor.
Gegen Morgen rief man sie hinein, sein Zustand hatte sich plötzlich verschlechtert. Während sie bei ihm saß, erlitt er einen Herzstillstand. Sie erschrak fürchterlich über sein tiefblaues Gesicht. Man schickte sie hinaus, reanimierte, aber ohne Erfolg. Er starb, ging ohne Abschied von ihnen, bevor alles, was sie sich vorgenommen hatten, gesagt oder getan werden konnte. Sie machte sich Vorwürfe, taumelte hinaus, alles fühlte sich wie Watte an, sie hörte die Stimmen der Pfleger: »Möchten Sie sich hinlegen, Frau Leblanc, sollen wir ein Taxi rufen?« Aber sie drangen nicht wirklich zu ihr. Sie empfand keine Realität, nur eine bizarre Szenerie, in der sie zufällig mitwirkte, wie in einem vorbeilaufenden Film. Sie wusste weder wie sie das Krankenhaus verlassen hatte, noch wie sie den Ausgang und ihr Auto fand. Erschöpft ließ sie sich in den Wagensitz sinken. Erst jetzt spürte sie, wie stark ihre Knie zitterten. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte haltlos. Dann rief sie ihre Mutter an, die Stimme versagte, sie hörte ihren Schrei, dann war die Leitung tot. Warum sie Mattuschke anrief, konnte sie sich selbst nicht erklären. Ihr Brustkorb verengte sich. Ich werde ersticken, dachte sie mit einem plötzlichen Angstgefühl das sie lähmte.
»Ich stehe vor dem Marienkrankenhaus«, war alles was sie herausbrachte. Obwohl er nicht wusste, was sich ereignet hatte, ahnte er es sofort.
»Ich bin in ein paar Minuten bei dir.« Gemeinsam mit Rick holte er sie ab und lud sie in seinen Wagen, sie hätte nicht selbst fahren können. Rick brachte den blauen zurück.
»Kümmere dich um ihre Mutter, steh ihr zur Verfügung, fahre sie wohin sie möchte und bring sie anschließend zu Louise.«
Dann informierte er Gila. Als sie zu Hause waren, nahm er Louise den Mantel ab, zog ihr die Schuhe aus, legte sie zugedeckt aufs Bett und rief seinen Hausarzt an, der ihr ein Beruhigungsmittel gab. Gila war erstaunt, zu sehen, wie liebevoll er sich um sie kümmerte. Ob da doch mehr ist, als Louise ihr erzählt hatte, ging ihr durch den Kopf. Sie wusste es nicht zu deuten.
Louise verbrachte die nächsten Tage wie in Trance, Mattuschke kümmerte sich um alles, organisierte Beerdigung, Behördengänge, Kondolenzkarten, Sterbeamt und legte Auslagen aus eigener Tasche vor. Erst später wurde ihr so recht bewusst, wie sehr er sie in den schweren Tagen unterstützt hatte und war ihm unendlich dankbar. Lange Zeit fühlte sie eine Lähmung in sich, eine unbekannte Schwermut und Antriebslosigkeit, zu tief saß der Schock über den plötzlichen Tod, zu schmerzlich war die Trauer und empfundene Schuld. Erst allmählich löste sich die Starre. Alle waren bemüht um sie, auch Gila und Vera, Sophie und Eric. Vera bot an, bei ihr zu übernachten, was sie rührend fand, es aber dankend ablehnte, dazu bestand keine Notwendigkeit.
Mehrere Wochen waren vergangen.
»Nicht, dass du mich falsch verstehst«, sprach Mattuschke sie an, »ich habe geschäftlich in der Schweiz zu tun, ich könnte zwei, drei Tage anhängen und ein wenig Urlaub machen. Hättest du nicht Lust mitzufahren? Etwas Abwechslung und gute Alpenluft würden dir sicher gut tun, nach den Belastungen. Das Wetter im Wallis soll zur Zeit hervorragend sein.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu. Sie schaute irritiert.
»Natürlich hat jeder ein Einzelzimmer, du würdest als meine Assistentin mitfahren. Lass es dir mal durch den Kopf gehen, du brauchst wieder Zerstreuung und neue Energie. Sag Bescheid, in drei Tagen werde ich fahren.«
Das Angebot überraschte sie völlig. Für Mattuschke, der sie in den Wochen fürsorglich betreute, empfand sie tiefe Dankbarkeit und Wärme. Wie könnte sie sich für alles revanchieren? Auch wenn er Einzelzimmer bestellte, rechnete er vielleicht damit, sie bei der gemeinsamen Fahrt näher kennenzulernen und mit ihrem Entgegenkommen. Sie mochte ihn wirklich, seine höfliche Art, die Großzügigkeit, den sechsten Sinn, mit dem er ihre Wünsche und Gedanken zu erraten schien, die überlegene Ruhe, die er ausstrahlte und sie in seiner Gegenwart geborgen
Weitere Kostenlose Bücher