Mauer, Jeans und Prager Frühling
daß er sich jetzt in ein Bohemien-Leben hineinarbeitet und eine Art L’art pour l’art Theorie aufstellt …«
Am 23. Juli 1968 saß Manfred K. mit Siegmar Faust im Hotel Hochstein am Bayrischen Bahnhof. Das war natürlich auch längst volkseigen, hieß aber noch so, weil hier einmal Karl Marx übernachtet hatte. Zu Marxens Zeiten kamen tatsächlich noch Züge aus Bayern an. Und es fuhren vor allem auch welche dorthin!
K. saß wieder einmal zweifach am Tisch. Zum einen sprach er mit Faust als Manfred K., zum anderen merkte er sich faustsche Sätze als IM Frank und schrieb sie später auf:
»›… ich schreibe nicht, weil ich Geld verdienen will, mirgeht es darum, das auszusprechen, was viele junge Menschen bei uns unheimlich bedrückt, nämlich die ganze Unfreiheit, die hier herrscht und auch in der SU – keiner kann sagen, was er wirklich denkt – er wird sofort totgeredet oder unter Druck gesetzt, wenn er es dennoch tut. Ihr könnt mich ruhig anzeigen – das ist mir ganz egal!‹ (Das meinte er auch in Hinblick auf seine Gedichte) Seine Ausführungen zum Motorboot-Kreis: ›… Wir wollen junge Menschen ganz unter uns sein, uns soll nicht andauernd jemand hineinreden. Wir wollen provozieren!‹ (Der Begriff – provozieren – kann auch im Sinne des Gedichtsbandes von Volker Braun, ›Provokation für mich‹ gemeint sein. ›Provokation‹ ist dadurch ein neuer literarischer Begriff geworden. F. kann sich in dieser Sache bei der Befragung auf diese Begriffsbestimmung zurückziehen.)«
Also, Vorsicht, Genossen, laßt euch nicht in die Irre führen! Am 29. Juli 1968 traf sich IM Frank mit seinem Stasi-Genossen Reinhardt in der »KW Adria« zur Berichterstattung. Nun sage einer, die Stasi hätte nicht auch Sinn für Poesie gehabt! Wo wird diese konspirative Wohnung gewesen sein …? Adria … war irgendwo Wasser in der Nähe? Vielleicht in den Neubauten gegenüber dem Schwanenteich?
»Frank berichtete:
Faust, ein Zirkelmitglied des Zirkels von Frank und ehemaliger Student des Lit. Inst. (exmatrikuliert), las in Franks Zirkel provokatorische Gedichte vor. (Über den Ablauf des Zirkelabends liegt bereits ein Bericht vor.)
Mit Faust vereinbarte Frank, daß er ihm etwa zehn weitere Gedichte zusendet und daß einige Tage nach der Zusendung ein Gespräch über die eingereichten Gedichte zwischen Frank und Faust stattfindet.
Die von Faust eingesandten Gedichte übergab uns Frank zur Einsicht.«
Die Lyrikfreunde der Staatssicherheit hatten bestimmt ihre Freude an den Texten. IM Frank hatte Faust ein Gespräch unter vier Augen versprochen, lud aber ohne dessenWissen noch einen Lektor des List-Verlages und ein Mitglied des Zirkels, einen Griechen, dazu ein.
»Gegen 18.00 h. kam Faust und seine Ehefrau in die Gaststätte Hochstein. Faust war zunächst sehr unsicher. Die Frau sprach anfangs kein Wort …
Das Gespräch, das die Tischrunde führte, drehte sich vorerst um Studienangelegenheiten. (Institut für Literatur und Universität) In diesem Zusammenhang ließ sich Faust auf Beschimpfungen gegen die DDR ein, indem er sagte, daß hier eine verantwortungslose Kulturpolitik geführt werde, die unsinnig sei. Des weiteren ließ er sich allgemein gegen die Politik der DDR aus. Er sprach in diesem Zusammenhang von ›bespitzelten Aussprachen‹, denen er ausgesetzt sei.«
Damit hatte er quasi den Nagel auf den Kopf getroffen …
Faust wollte »… eine Gruppe von Autoren und interessierten Literaturkennern bilden, die sich regelmäßig treffen und auch ein Statut haben sollten. Er sei jetzt zur Zeit dabei, ein Manifest zu erarbeiten, das er veröffentlichen wolle. Das Manifest wolle er an alle möglichen Institutionen schicken und auch in der Öffentlichkeit bekanntmachen. Jeder könne an der Arbeit der Gruppe teilnehmen. Die Öffentlichkeit könne auch die Arbeit der Gruppe kontrollieren. Dabei wies er auch auf den Ausbau der Möglichkeiten hin, auf seinem Motorboot weitere Lesungen zu veranstalten.« Siegmar Faust beschreibt in seinem 1999 erschienenen Roman »Der Provokateur«, wie er nach der Bootsparty vom Staatssicherheitsdienst observiert wurde: »Jedes Einkaufen, jedes Händeschütteln, jedes Lichtein- und -ausschalten, jede Straßenbahnstrecke, jedes Bei-Rot-über-die-Ampel-Gehen, jedes betretene Schweigen, jedes tönerne Denken, fast alles wurde registriert und notiert und der Nachwelt erhalten.«
Siegmar Faust wurde 1971 verhaftet. Er kam für 17 Monate in Stasiuntersuchungshaft, dann noch 16 Monate
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