Mauer, Jeans und Prager Frühling
»Corso« ging, folgten ihr die Blicke aller Männer. Sie hatte den kürzesten Rock, die schönsten Beine und den schwungvollsten Gang. Die Bilder machten die Runde, Bestellungen wurden vereinbart. Auch Gert Neumann, später ein geschätzter Schriftsteller, war mit auf dem Boot.
Ein guter Bekannter, von dem gesagt wurde, er wäre als IM Kretschmann geführt worden, beschwerte sich bei mir 1999, es würden böse Gerüchte über ihn verbreitet. Er wolle jetzt wegen solcher Verleumdungen an die Öffentlichkeit gehen. Es würde erzählt, er hätte zum Beispiel über jene Lesung auf dem Schiff einen Bericht geschrieben. Wie sollte er aber einen Bericht geschrieben haben, wo er doch an diesem Abend gar nicht dabeigewesen war!
Er war tatsächlich nicht an Bord der »Weltfrieden« gewesen, aber: »Am 26. Juni 1968 fand auf dem Stausee eine Riverboatlyriklesung statt … Alles, was ich über die Veranstaltung sagen kann, bezieht sich auf Hörensagen, da ich ja selbst nicht teilnehmen konnte.« In dem Spitzelbericht heißt es weiter: »Zu Beginn der Veranstaltung hielt Faust eine Einleitungsansprache, die Auszüge aus tschechischenAktionsprogrammen enthielt. Faust wies weiter darauf hin, daß auf dem Schiff Bilder der eben abgerissenen Universitätskirche käuflich zu erwerben seien.«
Nun folgen ein paar Namen von Teilnehmern.
»Den größten Raum der Diskussion nahmen die Gedichte Wolfgang Hilbigs ein, die mir zum größten Teil bekannt sind. Die zahlreichen Gedichte Hilbigs haben fast durchgehend den gleichen Inhalt: das nicht Zurechtkommen in dieser Gesellschaft, das sich Ausgestoßenfühlen. Daraus resultieren dann verallgemeinerte Angriffe gegen diesen Staat, seine Gesellschaftsordnung und seine Menschen. Die Gedichte sind meist didaktisch nicht einwandfrei und entspringen rein persönlichen Stimmungen, die wiederum aus seiner täglichen Umwelt und seinem Charakter resultieren. Hilbig ist ein notorischer Nörgler. Er greift an, meckert, dann zieht er sich zurück, ihm geht jede Aktivität, von ihm als schlecht erkannte Zustände positiv zu verändern, ab.«
Der »notorische Nörgler« Hilbig, der dann in den siebziger Jahren in Untersuchungshaft kam, erhielt 2001 die höchste deutsche Literaturauszeichnung, den Georg-Büchner-Preis. Nach erfolglosen Versuchen, seine Texte zu veröffentlichen, schrieb er 1968 an die DDR-Literaturzeitschrift »Neue Deutsche Literatur« einen Brief, in dem es heißt: »Darf ich Sie bitten, in einer Ihrer nächsten Nummern folgende Annonce zu bringen:
Welcher deutschsprachige Verlag veröffentlicht meine Gedichte? Nur ernstgemeinte Zuschriften an W. Hilbig, 7404 Meuselwitz, Breitscheidstr. 19b.
Ich bitte, nach Abdruck der Anzeige mir die Rechnung zuzuschicken.«
Es war ein langer Weg bis zu seiner Anerkennung, zu den Preisen, ein langer Weg, bis Hilbig – im Feuilleton hochgelobt – der »apokalyptische Heizer von Meuselwitz« genannt wurde.
Siegmar Faust kannte IM Kretschmann seit 1966. Sie hatten damals beide an der Karl-Marx-Universität studiert.Dort organisierte Faust eine Lesung unter dem Titel »Unzensierte Lyrik«. Zweifellos kein strategisch kluger Titel für eine Literatur-Veranstaltung in der DDR … IM Kretschmann war damals dabei: »Faust ist ein ungemein begeisterungsfähiger Mensch, der die Ausmaße seines Tuns nicht immer überschaut oder überschauen will. Als er im Juni 66 die ›Unzensierte Lyrik‹ organisierte, hätte er wissen müssen, daß der Titel – so stehenbleibend – lexikologisch einwandfrei politischen Charakter trägt. Er ist auch mehrfach darauf hingewiesen worden, setzte aber seine Meinung durch, die dem Begriff ›unzensiert‹ den einfachen und banalen Charakter des ›ungelesenen, noch nicht vorgelegten‹ gab. Seine festgesetzte Idee und der Reiz des Wortes ›unzensiert‹ gaben ihm nicht die Möglichkeit, die Tragweite des Wortes ›unzensiert‹ umgangssprachlich in die Realität einzuschätzen.
Wenn Faust jetzt von tschechischen Ideen trächtig ist, ist das ebenfalls auf seine blinde Begeisterungsfähigkeit, sein Nicht-Überschauen der tatsächlichen Situation und deren politische Hintergründe und Folgen zurückzuführen … Ihm fehlt die ehrliche Auseinandersetzung mit den Dingen, die in seiner politischen und menschlichen Umwelt geschehen, die Mißerfolge mit seiner Umwelt (u. a. zwei Exmatrikulationen) sind einerseits Zeichen für seine nicht ehrliche Auseinandersetzung, für seine Trugschlüsse, andererseits aber auch Grund dafür,
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