Mauer, Jeans und Prager Frühling
Bürokratie ist ein imaginärer Staat neben dem realen Staat, und deshalb hat jedes Ding eine zweifache Bedeutung – eine reale und eine bürokratische … Die sozialistische Alternative ist der Übergang von der Bürokratie zur Demokratie.« Dieser Übergang wäre nach wie vor sehr wünschenswert. Er vollzieht sich aber scheinbar in jedem System auf sehr langen Korridoren.
Die Tschechen hatten schon in der Vergangenheit zwei Antworten, zwei schonungslose literarische Analysen für die Zustände in der Gesellschaft. »In unserer Kultur sind zwei universale Modelle der Einstellung des Menschen zu einem solchen institutionellen System entstanden: das von Kafka und das von Hašek. Kafkas Gestalten und der Schwejk sind nicht bloß intellektuelle Ausgeburten ihrer Schöpfer.«
Bis heute.
Im Februar 1968 schrieb Jiří Sutr über ein »System kollektiver Sicherheit in Europa«. Darin ging es um die »Minderung der militärischen Spannung«, die »Schaffung atomwaffenfreier Zonen«, einen »Vertrag auf Gewaltverzicht«. Und er ging noch einen Schritt weiter: »Schließlich könnte es dann gleichzeitig zur Liquidierung der NATO und des Warschauer Paktes kommen, oder in der ersten Etappe zur Auflösung ihrer militärischen Organisationen.« Was wären uns für sinnlose Militärausgaben erspart geblieben! Wo stünden wir heute?
Ich las in einem Artikel von Jiří Hermach vom Philosophischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften: »Die sozialistische Demokratie ist nämlich ihrem ganzen Wesen nach auch ein Appell zu durchgreifender, neuer politischer Tat, zu positiver Lösung des Widerspruchs zwischen Wahrheit und Macht.«
Jede Ausgabe von »Im Herzen Europas« zeigte, daß in diesem Land eine einmalige Bilanz der Situation des Sozialismus gezogen wurde.
Dr. G. Solar schrieb: »… Wenn es gelingt, was wir wollen, wird die sozialistische Demokratie attraktiver sein als die bürgerliche. Aber wird dann die ČSSR im Westen noch eine so gute Presse haben?«
Die Begeisterung hätte sich sehr in Grenzen gehalten.
Mir schwirrte der Kopf von so viel Neuem. Wer konnte sich vorstellen, daß eine Partei im sozialistischen Lager Sätze formulierte wie: »Die Politik der Partei darf nicht dazu führen, daß die nichtkommunistischen Bürger das Gefühl haben, sie seien in ihren Rechten und Freiheiten durch die Rolle der Partei beschränkt, sondern daß sie im Gegenteil in der Tätigkeit der Partei die Garantie ihrer Rechte, Freiheiten und Interessen erblicken.« Abschließend heißt es im Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, das in der Juli-Ausgabe von »Im Herzen Europas« kommentiert wurde: »In den nächsten Monaten und Jahren erwarten uns schwierige Zeiten, außerordentlich anspruchsvolle und verantwortliche Arbeit … Vertrauen wird not tun, gegenseitiges Verständnis, einmütige Arbeit und Initiative aller, die ihre Kräfte wirklich dem großen menschlichen Experiment widmen wollen …«
Die schwierigen Zeiten folgten bereits einen Monat später. Falls das August-Heft der Zeitschrift erschienen ist, war es in der DDR schon nicht mehr erhältlich …
Für mich war dieses tschechische Konzept, dieses Reformprogramm die letzte große Chance des Sozialismus. Alle politischen Vertretungen sollten durch direkte, freie und geheime Wahlen legitimiert werden, ebenso die Vertreter verschiedener Gruppen wie Gewerkschaften etc. Die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative sollte ebenso garantiert werden wie die Unabhängigkeit der Medien. Jegliche individuellen Bürger- und Menschenrechte sollten festgeschrieben sein.
Prag war mit den tschechoslowakischen Reformern zueinem Zentrum des modernen Marxismus geworden. Doch es kam alles anders. Lenka Reinerová beschreibt in einem ihrer Bücher, wie nach dem Einmarsch vor dem Redaktionsgebäude – Sinnbild der Gewalt – eine Kanone aufgestellt wurde. Und die sowjetischen Soldaten hingen nach der Wäsche ihre Unterhosen über das Rohr zum Trocknen. Weiße Hosenbeine, die aber alles andere als Parlamentarierfahnen waren.
Wie ging es weiter mit der stellvertretenden Chefredakteurin Lenka Reinerová?
»Es gab damals, ich war ja noch Parteimitglied, die sogenannten ›Gespräche‹, wo man sagen mußte, ob man dafür oder dagegen ist. Ich wurde aus der Partei ausgeschlossen, durfte nicht mehr in die Redaktion, bekam Hausverbot.«
Und nicht nur das, sie erhielt nach dem Scheitern des Prager Frühlings auch Publikations- und
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