Mauer, Jeans und Prager Frühling
modern, vom absurden Theater beeinflußt. Ich übersetzte drei Szenen daraus und veröffentlichte sie in unserer Zeitschrift. Der Autor war damals 28 Jahre alt. Es meldete sich bei mir der Intendant Boleslaw Barlog aus Westberlin und fragte an: ›Wer ist dieser begabte Autor? Können Sie eine Verbindung herstellen?‹Ja, schrieb ich ihm, der ist Kulissenschieber im Theater am Geländer. Von da an hatte Václav Havel Kontakt zu deutschen Bühnen und bald auch zu einem entsprechenden Verlag. Barlog war hocherfreut, er lud mich zum Dank ein: Jederzeit könne ich gratis seine Theatervorstellungen besuchen. Davon habe ich später reichlich Gebrauch gemacht.«
Einen besonderen Schub bekam die Zeitschrift »Im Herzen Europas« mit dem ZK-Plenum der Kommunistischen Partei im Januar 1968. Dort wurde Alexander Dubček zum 1. Sekretär des ZK der KPČ gewählt. Damit begann der umfassende Reformprozeß in unserem Nachbarland, und in der Zeitschrift las ich, was mit diesem neuen Sozialismus eigentlich gemeint war, denn in der DDR war darüber natürlich nichts zu erfahren. Die Artikel über den Aufbruch begeisterten mich. Hier fand ich schwarz auf weiß, was viele in meinem Bekanntenkreis dachten, aber in der Öffentlichkeit nicht zu sagen wagten.
In jenem Jahr blickten wir Ost-68er alle nach Prag. Dort keimte nicht nur, dort wuchs schon die Hoffnung.
Kein Thema, kein Widerspruch und kein Konflikt wurden in der Zeitschrift ausgespart. In den Beiträgen wurde die sozialistische Welt zurechtgerückt. Die Fehlentwicklungen unserer Wirtschaft waren ja für alle offensichtlich.
Jiří Kosta schreibt in seinem Buch »Nie aufgeben. Ein Leben zwischen Bangen und Hoffen«: »Das im Prager Frühling von 1968 weiterentwickelte ›ökonomische Modell‹ wies zwei Hauptmerkmale auf: erstens, eine Eigentumsordnung, die die Mitarbeiter in Großbetrieben und die unabhängigen Genossenschaften vor allem im landwirtschaftlichen und mittelständisch-gewerblichen Sektor an den Entscheidungen beteiligte und Privateigentum zuließ; zweitens, eine Organisationsform, in der marktwirtschaftliche Lenkung dominiert, ergänzt durch eine staatliche Wirtschaftspolitik und Volkswirtschaftsplanung in den sogenannten Schlüsselbereichen.«
Die ökonomischen Reformer um Ota Šik wollten Markt und Preis erstmals in einem sozialistischen Land in Übereinstimmungbringen. Die Wirtschaftsreform sollte ein System installieren, das sich auf die Synthese von Plan und Markt stützt.
Vizepremier Ota Šik war der führende Autor der Wirtschaftsreform. Er propagierte den dritten Weg, der bekanntlich von vielen Fachleuten beider Lager abgelehnt wurde. Es gäbe keinen dritten Weg, nur Sozialismus oder Kapitalismus. Ich selbst denke, es wäre für die Menschheit sehr beruhigend zu wissen, daß es einen dritten Weg geben kann.
Welch Geist wehte durch die Zeitschrift »Im Herzen Europas«! Ich verschlang jedes Heft in Windeseile.
Eine Diskussion im Jahr 1968 beschäftigte sich mit dem Thema: »Der manipulierte Mensch?«. Allein die Frage ließ »unseren Leuten« eine Gänsehaut über den Rücken laufen.
»Wird er zu Selbständigkeit oder Unselbständigkeit angeleitet, zu mutigem Auftreten oder zu Duckmäuserei, zu kritischer Betrachtung oder zu Kritiklosigkeit, zu Gehorsam oder Ungehorsam, zu größerer Freiheit oder zu größerer Unterordnung …«
Ich ahnte allmählich, daß ich dieses Abonnement wohl nicht für alle Ewigkeit würde behalten können. Ich las Auszüge aus einem Buch von František Šamalik. Er schrieb über Bürokratie: »Ihrem Wesen nach ist die Bürokratie ein formaler Ausdruck des Staates, sie ist es somit auch ihrem Zweck nach. Der tatsächliche Zweck des Staates erscheint der Bürokratie daher als ein gegen den Staat gerichteter Zweck. Da sie ihre ›formalen‹ Zwecke zu ihrem Inhalt macht, gerät sie überall in Konflikt mit den ›realen Zwekken‹: sie ist gezwungen, das Formale für den Inhalt auszugeben und den Inhalt als etwas Formales. Staatszwecke werden zu Kanzleizwecken, beziehungsweise Kanzleizwecke zu Staatszwecken. Ihre Hierarchie ist die Hierarchie des Wissens: die Spitze verläßt sich darauf, daß die unteren Stellen sich in den Einzelheiten auskennen, während die unteren Stellen ihrerseits glauben, die Spitze verstehe dieallgemeinen Zusammenhänge, und so täuschen sie einer den anderen.«
Als brandneue Erkenntnis sei ergänzt: Damit dies alles zutrifft, braucht es nicht einmal einen verkorksten Sozialismus …
»Die
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