Mauer, Jeans und Prager Frühling
starb im Oktober 2000 im Alter von 87 Jahren.
Prager Frühling
Eines Tages saß ich im »Corso« und lernte einen Studenten kennen, mit dem ich mich auf Anhieb gut verstand. Er hieß Lutz Glaser, aber seinen Vornamen hätte ich fast vergessen, weil wir uns, als Liebhaber von Backwerk, ständig mit den Namen von Kuchen und Tortenstücken ansprachen. Also: »Wie geht’s, mein Florentiner?«
»Hör mal, du Sahnebaiser …«
»Meine Streuselschnecke, was ich dir noch sagen wollte …«
»Erdbeerschnittchen, kommst du mit ins Kino?«
Kurz nachdem wir uns im Kaffeehaus kennengelernt hatten, fragte ich ihn: »Was machst du in den Ferien?«
»Ich weiß noch nicht.«
»Was hältst du davon, wenn wir nach Prag und Budapest trampen?«
»Klar, bin ich dabei.«
So schnell kam ich mit Lutz, den ich nur Mokkatörtel nannte, zu einem gemeinsamen Urlaub.
Es waren Ferien, in denen wir Zeitzeugen einer historischen Etappe wurden. Mitten im Sommer 1968 lernten wir den Prager Frühling kennen.
An einem frühen Morgen standen wir frohgemut winkend am Straßenrand. Es fuhren diverse Trabanten, Wartburgs, Skodas, und was es sonst noch an spärlichen Fahrzeugtypen des Ostblocks gab, an uns vorüber, aber sie schienen an jenem Tag alle einen Bremsschaden zu haben, oder die Fahrer plagte die Angst, daß wir entflohene Sträflinge wären. Kein Schwein hielt an!
Zwar war das Trampen in der DDR lange nicht so üblich und beliebt wie in Polen, aber dies war ein besonders schlechter Tag, den wir uns für die Anhalterei ausgesuchthatten. Der Optimismus, Prag in einem Tag zu erreichen, schwand immer mehr, nach und nach halbierten wir die Entfernung zu unserem Tagesziel, und schließlich waren wir dankbar, wenn wir wenigstens noch Dresden erreichen würden. Das gelang uns jedoch nur dank eines hübschen schlanken Mädchens, das sich zu uns gesellt hatte und endlich einen Autofahrer zum Tritt auf die Bremse animierte.
Entnervt bestiegen wir nach Mitternacht einen Zug nach Prag. Als wir 5.00 Uhr dort ankamen, waren wir überrascht, welche Geschäftigkeit schon vor dem Bahnhof herrschte. Nachdem wir in einem internationalen Studentenhotel in einem Mehrbettzimmer untergekommen waren, erkundeten wir die tschechische Hauptstadt. Ein Volk im Aufbruch, Trubel, strahlende Menschen, frohe Gesichter.
Mokkatörtel und ich saßen am Wenzelsplatz vor dem »Ambassador« bei einem Bier, lasen den »Spiegel« und kamen uns wie Weltbürger vor. Hin und wieder fragte uns jemand von den Flaneuren, die über den Platz schlenderten: »Wo gibbsn dähn Schbiechel?«
Und wir wiesen ihnen den Weg zu dem internationalen Zeitungsladen in der Jungmannova.
Während wir eifrig nach bundesdeutschen Presseerzeugnissen fahndeten, verschlangen die Einheimischen ihre Zeitungen. Das hatte es noch nie gegeben! Reiner Kunze schrieb über die Zeitungsleser:
Verkehrt
liest das volk die zeitung: von
vorn
Das tor von Slavia gegen Sparta das
dem leben einen sinn gab ist
zweitrangig
HYPOTHEKEN GESUCHT FÜR
FUNDAMENTE
Im Kino applaudierten die Besucher, sobald in der Wochenschau Alexander Dubček auftauchte. Am Graben standen die Menschen bis in den Morgen und diskutierten über die Zukunft der Tschechoslowakei. Hippies aus ganz Europa durchstreiften die Stadt, saßen abends auf der Karlsbrücke, sangen die Lieder der Beatles, von Joan Baez, Simon & Garfunkel, Ester und Abi Ofarim, Bob Dylans »… the answer is blowing in the wind«. Die Antwort, wie es in diesem Land, im Osten überhaupt weitergehen könnte, diese Antwort war nicht vom Wind verweht, war sehr konkret.
Wir fühlten uns auch ohne das gute tschechische Bier wie benebelt. Was für ein Leben, welch ein Gefühl von Freiheit!
Und nun spickten sich auch die jungen Ostdeutschen die Sticker jener Zeit in die Jeansjacke: »Make love, not war!« – jene Hippie-Losung gegen den Vietnamkrieg. Die Blumenkinder machten sanften Beat und versuchten sich alle zu lieben.
Mit Gänsehaut und Begeisterung sahen wir »Help« mit den Beatles. Wir waren fassungslos, daß wir tatsächlich in einem Spielfilm mit den leibhaftigen Pilzköpfen aus Liverpool sitzen konnten. Einem Farbfilm! Es war die Zeit, als im Kino noch viele Schwarzweiß-Streifen liefen.
Abends saßen wir im Studentenklub »Vltava« und diskutierten mit jungen Leuten von sonstwoher über Gott und die Welt. Ich traf dort Schubi, eine Bekannte aus Leipzig, eine absolute Individualistin. Sie war eine Königin des Trampens: ob durch die DDR oder durch das
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