Mauer, Jeans und Prager Frühling
sechziger Jahre wäre nur fragmentarisch skizziert, ließe man die damalige Theaterszene außer Betracht. Da ist zunächst die Gaststätte der damaligen Kammerspiele zu nennen, in der der Generalintendant Arpe und der berühmte Professor Max Schwimmer im Kreis eines zahlreichen Gefolges von Schauspielern, Tänzern, Musikern und Malern gezecht haben. Es ist der toleranten süddeutschen Stimmungsnudel Zenzi zu danken, daß sie, als langjährige Wirtin, dem ausgelassenen Künstlervölkchen während der allgemeinen Tristesse noch Freiraum zum Austoben ihrer Talente gab. So kam es zu fast naturalistisch gespielten Eifersuchtstragödien einiger Mimen mittenunter den entsetzten Zufallsbesuchern, die überstürzt aus der Kneipe flohen.
Unzählige Bierdeckel, die heute noch höchst begehrte Sammlerobjekte sind, wurden dort von Max Schwimmer mit genial hingekritzelten Skizzen versehen.
Professor Heinz Wagner lernte Max Schwimmer an diesem Kneiport kennen. Es hatte sich herumgesprochen, daß ein Neuer aus Weimar an der Hochschule für Grafik und Buchkunst war. »Bist du der Neue aus Weimar?«
»Ja.«
»Zensi, eine Flasche Sekt.« Die Truppe um Schwimmer leckte sich schon die Lippen. »Und zwei Gläser.«
Nach jeder Premiere trafen sich die beiden stadtbekannten Kritiker Georg Antosch und Dr. Eike Middell in der »Klause« vom Schauspielhaus, vermutlich argwöhnisch von der Schauspieltruppe beobachtet, um eine Bemerkung über die Inszenierung erhaschen zu können. Doch jegliches »Horchen« war umsonst. Das ungeschriebene Gesetz der beiden lautete: Nach der Premiere nie über das Stück zu reden. Sie sprachen bei erfrischendem Trunke über Gott und die Welt, doch nie über das eben Gesehene. Erst nachdem jeder seine Rezension abgeliefert hatte und man sich irgendwo zufällig traf, tauschte man sich zur Sache aus.
Auch in der »Kammer« wurde nach der offiziellen Polizeistunde hinter verschlossenen Türen oft noch lange weitergefeiert, doch völlig unter sich war man erst in der »Klause« des Schauspielhauses, kaum zwei Querstraßen entfernt. Nach dem Pausenbetrieb war die rustikale Kantine dem Fremdling gemeinhin verschlossen. Nur besonders gute Freunde wurden von den Theatermitgliedern via Bühneneingang, vorbei am Nachtpförtner und durch ein verwirrendes Labyrinth von Heizungskellergängen, ins Allerheiligste gelotst. Dort herrschte – jenseits von Raum und Zeit – der skurrile Zerberus des Hauses, der auch von den begabtesten Schauspielern nicht nachzuahmende Kellner Fritz Freund. Über Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, begrüßte er seine Gäste mit der stereotypen Frage: »Hast du denn ooch’n Erlaubnisschein von dein’n Eltern mit? Sonst muß’ch dich nämlich zurück ins Heim schick’n!«
Es ist schier unmöglich, die Namen der prominenten und weniger prominenten Theaterleute aufzuzählen, die sich hier, abgeschirmt, vom Publikum, hemmungslos produzieren konnten. Daneben wurde der neueste Klatsch kolportiert und eine Unzahl von verrückten Streichen ausgeheckt. So zum Beispiel die Präparierung einer leichten Reisetasche, die ein Schauspieler in einer Vorstellung lässig zu schwenken hatte, mit einem zentnerschweren Bühnengewicht.
Anekdoten erzählte man vor allem über eine Gruppe von Erzkomödianten wie die Schauspieler Helmut Schreiber, »Macky« Neiß, Kurt Kachlicki und den Komponisten Uwe Ködderitzsch.
Von Kachlicki, der einem guten Trunke nicht abgeneigt war, berichtete man, daß er in angesäuseltem Zustand auf einer Probe vom autokratisch herrschenden Generalintendanten Karl Kayser zurechtgewiesen wurde: »Schämen Sie sich!« Darauf meinte der Mime schwankend: »Wieso ich? Ich hab doch die Inszenierung nicht gemacht!«
Zurück zu seinen speziellen Leipziger Zechkumpanen:
Die erwähnte Truppe waren ein eingespieltes Team, wenn es um Eulenspiegeleien ging. Vergleichsweise harmlos die nächtliche »Motivsuche« für einen fiktiven Film auf dem Leipziger Hauptbahnhof, wobei »Regisseur« Kachlicki und »Kameramann« Schreiber bis zum stellvertretenden Direktor des Bahnhofs vordrangen, sich dann über Laufgänge unter den Bahnsteigen führen und – man glaubt es kaum – vom diensteifrigen Stationsvorsteher eine Flasche Schnaps aus der Mitropa holen ließen. Bedenklicher war schon die überzeugend gespielte Suche der beiden Mimen unter dem Waggon eines abfahrbereiten »Interzonenzuges« nach einem gar nicht existierenden Freund, der sich angeblich wegen irgendwelcher Schwierigkeiten mit seiner
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