Mauer, Jeans und Prager Frühling
18 Uhr das Kultcafé Corso schloß, und leerte sich erst wieder zum Lokalschluß um 21 Uhr. Hier stritten erbittert Maler mit Kunsthistorikern, Marxismus-Leninismus-Dozenten mit Theologen, Schwule mit Heteros, jeder verdächtigte jeden, bei der Stasi zu sein (einige waren es auch), und nach der entsprechenden Anzahl von Getränken lag man sich verstehend und verzeihend in den Armen. Die neuesten politischen Witze wurden erzählt und todernst politische Hypothesen entworfen.
Ein Problem der »bodega« war: sie verfügte über keine Toilette. Es gab wohl eine lose Vereinbarung, daß man in der Milchbar in der Petersstraße seine dringendsten Bedürfnisse verrichten konnte. Manchem war das zu weit, der ging zu diesem Zweck um die Ecke, auf jenes Grundstück, auf dem heute das Gebäude von Peek & Cloppenburg steht. Dort befand sich der zentrale Obst- und Gemüsemarkt. An diesem Namen stimmte lediglich das Wort zentral – das war er wirklich. Das Angebot an Obst und Gemüse dagegen war mehr als spärlich. Meistens hatten die Kunden die Wahl zwischen Rotkraut und Weißkraut, und der »Gelbe Köstliche« leuchtete aus den Holzkisten. Heute befindet sich in der »bodega« ein Blumenladen, und die Verkäuferin, von mir darauf angesprochen, erzählte, daß schon mancher, der mit melancholischem Blick zwischen Chrysanthemen und Rosen stand, ihr mitgeteilt habe, andiesem Ort in schöner Runde diesen und jenen Schoppen genommen zu haben …
Von der »bodega« zog ein Teil des trinkwilligen Volkes nach Ausschankschluß in die Schulstraße, zur »Csarda«. Besonders gegen Mitternacht strebten Besucher in Scharen in die Weinstube, da sie, von Nachtbars abgesehen, als einzige bis 1 Uhr geöffnet hatte.
Wer in der »Csarda« keinen Platz mehr fand, dem blieb nur das Mitropa-Restaurant im Hauptbahnhof. Allerdings mußte man dort vor 24 Uhr angekommen sein. Ab Mitternacht bis 6 Uhr früh wurde kein Alkohol ausgeschenkt. Manch Trinkfreudiger bestellte zu später Stunde gleich mehrere Bier, um genügend Stoff zu haben. Wer einen Kellner kannte, orderte bei dem konspirativ und fand dann im Mokkakännchen keine schwarze Brühe, sondern Kognak vor. Der wurde dann aus den dicken Tassen getrunken …
In der »Csarda« jedenfalls versammelten sich, nachdem die bürgerlichen Essensgäste gegangen waren, unentwegte Szenetypen unterschiedlicher Altersklassen und Provenienzen. Das Markenzeichen der »Csarda« war ein halbes Menschenleben lang Harry, der Kellner. In harter Arbeit hatte er seiner Stupsnase unter Zuhilfenahme großer Mengen scharfer Essenzen eine leuchtende Erdbeerfarbe verliehen, und sein Gang verriet den klassischen Kellnerplattfuß. Für Spätankömmlinge rückte er konsequent, trotz inständigen Flehens nach trockenen, nur noch süße und teure Weißweine heraus, wohl wissend, daß wir keine Wahl hatten. Beim Kassieren konnte es schon mal vorkommen, daß er, vielleicht wegen des ewigen Verrutschens seiner Brille, zwei Flaschen zuviel aufschrieb, doch an anderen Tischen fanden sich immer wieder Schlitzohren, die die Gesamtbilanz zu ihren Gunsten ausglichen.
Wolfgang Siegenbruk hat Harry gemalt und damit für die Ewigkeit festgehalten. Ganz typisch nebst roter Nase. Sein Porträt »Nach der Arbeit« hat das Museum der bildenden Künste angekauft. So kann Ihnen gelegentlich der »Csarda«-Kellner in jenen heiligen Kunsthallen begegnen.
Eine Sensation war das »Intermezzo«. In der DDR wurde plötzlich ein großes privates Kaffeehaus am Dittrichring eröffnet.Serviert wurde mit noblem Weimar-Porzellan. Der Besitzer, so hieß es, sollte angeblich einen Riesen-Lottogewinn eingeheimst und deshalb die Genehmigung zur Eröffnung des Cafés erhalten haben. In der Mitte des Raumes befand sich ein stufenförmiges Becken. Das Wasser plätscherte unentwegt, und als ich mit meiner Mutter und meiner Freundin Doris seinerzeit im »Intermezzo« saß, sagte meine Mutter: »Das Plätschern erinnert mich sehr an die kaputte Dachrinne an unserem Haus.«
Kolportiert wurde immer wieder die Geschichte, daß ein trunkener Gast in dem flachen Becken in voller Montur zu schwimmen versuchte. Andere meinten jedoch, es hätte sich um eine Wette gehandelt; der Mann wäre nur durch das Becken gerobbt, um einen Preis zu kassieren.
Vor seinem Studium an der Karl-Marx-Universität arbeitete der Schriftsteller Christoph Hein ein Jahr als Kellner in diesem Etablissement. Hein war bis 1961 in Westberlin zur Oberschule gegangen, obwohl seine Eltern im Osten der
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