Mauer, Jeans und Prager Frühling
Herrn Stöckigt. In ersten Häusern ausgebildet, war er, nun schon in reiferen Jahren, ein perfekter Serviermeister. Hager von Gestalt, schabte er ständig nervös seinen Hals am blütenweißen Hemdkragen, hatte sämtliche Rechnungen im Kopf und kannte alle Stammgäste mit Namen. Keiner wäre in 20 Jahren auf die Idee gekommen, ihn zu duzen.
Herr Stöckigt hatte nur eine gravierende Schwäche – er konnte nicht nein sagen, wenn er zu einem Weinbrand eingeladen wurde – und er wurde oft eingeladen … Da es bei »Pfeiffers« verboten war, im Dienst zu trinken, ging er im Ernstfall hinter dem mit Schmiedeeisen verblendeten Ofen in Deckung und stürzte in Sekundenschnelle seinen Schnaps hinter. Zu später Stunde balancierte er volle Biertabletts in einer Schräglage durch die Tischreihen, die jedes physikalische Gesetz außer Kraft zu setzen schienen. Rechnungen schätzte er dann einfach. Aber nie zu seinem Vorteil. Einmal nur, zu sehr vorgerückter Stunde im fast leeren Lokal, erzählte Herr Stöckigt uns von seinen Kriegserlebnissen in Norwegen. Als Soldat hatte er bei Narvik gelegen, bei Kriegsende war er zu Fuß bis kurz vor seinen Heimatort gekommen, als ihn die Engländer gefangennahmen und den Russen auslieferten. Die transportierten ihn mit hundert anderen in ein Lager hinter dem Ural. Dort blieb er sieben Jahre lang!
Er wurde mit zunehmendem Alter kränklicher und sein Durst größer. Man verwarnte ihn, umsonst. Ausgerechnet während einer Frühjahrsmesse passierte das Unfaßbare: Herr Stöckigt, betrunken, kriegte die Kurve nicht, eine Bierflut ergoß sich vom Tablett über die Nadelstreifenanzüge einer hochrangigen Unternehmergesellschaft, die beim festlichen Arbeitsessen ihre Abschlüssefeierte. Er wurde fristlos entlassen – ein Vierteljahr vor seiner Pensionierung.
Ich sehe Herrn Stöckigt mit seinem blassen, etwas traurig bis griesgrämig blickenden Gesicht noch vor mir. Immer im schwarzen Anzug. Und immer diese Kopfbewegung, als hätte man ihm Juckpulver ins Hemd geschüttet. Um heute solch einen Kellnertyp zu sehen, muß man schon bis Wien fahren. »Pfeiffers« könnte es noch geben, wenn es die hiesige Konsumgenossenschaft nicht kaputtrenoviert hätte …
Sehr gern saß ich auch als Student, später mit meiner Freundin, dann Verlobten, schließlich Frau in »Lüttichs Weinstuben«. Unweit der Stasi-Rückfront. Frau Lüttich, in frisch gestärkter blütenweißer Schürze, betrieb die Gaststätte mit ihrem Sohn, manchmal half auch ihre Schwester mit. In den beiden Räumen standen höchstens sechs Tische, meist reserviert. Nach einem Kontroll-Blick von Herrn Lüttich ins Gesicht des Eintretenden blieben sie es oder wurden mit Schwung freigegeben.
Zum »Erlauer Stierblut« wurde ein Käsebrot mit einem verzierten Besteck serviert, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Als Frau Lüttich altershalber das Geschäft aufgeben mußte, wurde ihrem Sohn die Genehmigung zur Fortführung der Weinstube verweigert. Er mußte sich dann ausgerechnet im »Ratskeller« als Kellner verdingen.
Von den zu DDR-Zeiten entstandenen »gastronomischen Einrichtungen« war die »bodega« im Fünfziger-Jahre-Stil etwas ganz Besonderes. Eigentlich sollten ja die Werktätigen von früh bis spät fleißig arbeiten. Wieso brauchten sie da in der Messehofpassage eine Tagesbar?! Für die Messen, für das Spielchen, sich als eine internationale Stadt darstellen zu wollen.
Wolfgang S. stand mit seiner Frau hinter dem Tresen. Er war ein etwas stiller, lakonischer Typ. Wen er kannte, der wurde über den Tresen stets mit Handschlag begrüßt. Der schmale Raum bestand aus eben jenem Tresen mit den obligatorischen Barhockern. Dahinter war gerade noch genügend Platz für den Auf- und Abgang. Am Abend oder auchtagsüber während der Messen stand dort unverdrossen die zweite und manchmal dritte Reihe der Weintrinker. Wer dann vom Ende der Bar her sich einen Weg nach draußen bahnen wollte, mußte viel Zeit einplanen. Zumal man unterwegs noch Bekannte traf und sofort ins Erzählen kam, den Mantel mitunter nach einigen Minuten wieder ablegte und blieb.
Ursprünglich kannte hier buchstäblich jeder jeden, so daß ein Fremder sofort verschreckt das Lokal verließ, weil er dachte, in eine Familienfeier geraten zu sein. Die Stammgäste gliederten sich in kleinere Untergruppen, die zuweilen untereinander leichte Ressentiments hegten – die Zeit war eben die Zeit des Mißtrauens, aber man kannte sich. Schlagartig füllte sich das Haus, wenn
Weitere Kostenlose Bücher