Mauer, Jeans und Prager Frühling
oder die Bahn hatte aus anderen Gründen schlappgemacht, hieß es: warten! Ein Taxi war uns zu teuer. Ich bin ein einziges Mal während des Studiums mit meinem Freund Pepe zu nächtlicher oder eher morgendlicher Stunde Taxi gefahren. Wir hatten uns einen großen Abend geleistet – in der Nachtbar des Hotels Deutschland! Und waren sogar noch mit der dort gastierenden westdeutschen Sängerin Nana Gualdi ins Gespräch gekommen. Wahnsinn!
Mehrmals bin ich vom Zentrum bis nach Leutzsch gelaufen. Einmal ging dem Marsch in den Leipziger Westen ein unvergeßliches Erlebnis voraus.
Ich stand zu später Stunde, gegen zwei Uhr, an der Haltestelle Karl-Tauchnitz-Straße. Es war kalt, ich fror, und keine Bahn in Sicht. Ich lief auf und ab, um mich etwas zu erwärmen, und betrachtete die ehemals herrschaftlichen Häuser auf der anderen Straßenseite. In einem residierte das Institut für Literatur. Es war der Traum vieler junger Schreiber, dort aufgenommen zu werden.
In dem Gebäude daneben sah ich ein erleuchtetes Kellerfenster. Souterrain hatte man in den Glanzzeiten dieses Hauses dazu gesagt. In der DDR wurden solche vornehmenAusdrücke aus dem Sprachgebrauch getilgt. Das klang viel zu bürgerlich.
Ich lief also hin und her, kein Mensch war weit und breit zu sehen, und ich schaute immer mal zu dem Kellerfenster, das sogar geöffnet war. Schließlich trieb mich die Neugier über die Straße, getreu der alten Weisheit: Licht lockt Leute.
Ich blickte in eine bescheiden eingerichtete Küche. Das Haus wurde als Internat genutzt. Als ich näher ans Fenster trat, entdeckte ich eine junge Frau, die am Gasherd stand, und nun roch ich auch den verführerischen Duft von gebratenem Fleisch. Nachts um zwei!
»Entschuldigung, wissen Sie, wann die nächste Straßenbahn fährt?« Das Mädchen drehte sich schnell um. Sie war etwas erschrocken. »Nein, leider nicht.«
Sie kam näher ans Fenster, wir lächelten uns an. Ich sah nun, daß sie Rouladen briet. Ein Duft war das! Sie wissen, so ein Duft kann einem durch und durch gehen – zumal, wenn man, wie ich, Hunger hatte.
»Warum braten Sie denn so spät nach Mitternacht noch Rouladen?«
»Ich habe bis jetzt gelernt. Und morgen bekomme ich Besuch.« Wir unterhielten uns über ihr Studium, und ich erfuhr, daß sie Lehrerin für Kunstgeschichte und Deutsch werden wollte und in diesem Internat hier wohnte. Weiterhin bemerkte ich zu meiner großen Freude, daß sie über ein mitfühlendes Herz verfügte, denn sie fragte mich plötzlich: »Ist Ihnen kalt? Wollen Sie sich aufwärmen?«
Und ob ich das wollte! So schnell bin ich noch nie in ein Souterrain gelangt. Auf dem Küchentisch lag ein Band von Jean Paul. Doch im Moment interessierte mich der alte Schulmeister überhaupt nicht, selbst die Roulade rückte etwas in den Hintergrund, konnte ich mir doch nun die nächtliche Braterin näher betrachten. Ihr schwarzes langes Haar war mir als erstes aufgefallen, aber nun sah ich, daß sie grüne Augen hatte. Grüne Augen waren auch in Leipzig sehr selten. Wo hatte ich das letzte Mal welche gesehen?Mir fiel ein Film mit Rita Tushingham ein. Der hieß wohl sogar »Das Mädchen mit den grünen Augen«.
Während wir uns über Bücher unterhielten, überwachte sie den Bratvorgang mit einer Gabel. Ich vermute mal, daß ich dann für eine Zeit die gerollten Fleischstücke sehr intensiv und etwas versunken betrachtet habe, denn plötzlich fragte sie: »Haben Sie Hunger?«
Wie eine gute Fee, dachte ich, die Gedanken lesen kann. Ich zierte mich eine angemessene Zeit, aber nicht zu lange … »Ich kann Ihnen doch jetzt keine Roulade wegessen.« Mich interessierte inzwischen auch überhaupt nicht mehr, wann die nächste Bahn in Richtung Leutzsch fahren würde.
Wir setzten uns in die ehemalige Diele der großbürgerlichen Villa. Neben dem längst nicht mehr benutzten Kamin hing eine Wandzeitung, die berühmte »Rote Ecke«, die es in Schulen, Betrieben und Institutionen überall gab. In diesem Gründerzeithaus wirkte die sozialistische Agitation besonders deplaziert.
Ich aß mit großem Genuß. In der Diele brannte keine Lampe. Nur oben, über dem Holzgeländer des ersten Stockwerks schimmerte etwas Licht. Sie freute sich, daß ich mit Appetit die Roulade verspeiste. Dann ließ sie mich allein und kam nach kurzer Zeit mit einer Flasche Rotwein zurück.
Ich strahlte beim Anblick der Flasche. »Ein Service ist das hier!«
»Die hab ich von meiner Freundin geborgt.«
»Ist sie denn noch wach?«
Sie
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