Mauer, Jeans und Prager Frühling
dem Boden. Wieder einmal hatte das Improvisationstalent des DDR-Bürgers gesiegt!
Aus einem kleinen Aluminiumtöppel hat man dann die feinsten Whiskys und Cognacs dieser Welt genossen.
Ich partizipierte eines Tages auch von den schönen Dingen dort im Lager. »Den hab ich weggefunden«, sagte mein Freund und schenkte mir einen West-Rasierapparat. Aus Metall! Drehte man am Griff, öffnete er sich oben, und man konnte bequem die Gillette-Klinge einlegen. Toll! Mit jedem Drehen öffnete sich für mich auch eine andere Welt!
Was man damals gern entgegennahm, waren tatsächlich Rasierklingen aus dem Westen. Nach einer Ost-Klingen-Rasur sahen Männer mit starkem Bartwuchs aus, als gehörten sie einer schlagenden Verbindung an.
Da im Lager keine Warenlisten existierten, wurden natürlich ab und an von den Mitarbeitern auch Textilien für den Eigenbedarf abgezweigt. Das mußte man geschickt anstellen. Hemden oder Pullover zog man sich kurz vor Feierabend auf der Toilette drunter. Es war aber in jeder Beziehung riskant, weil ertappten Sündern die Exmatrikulation drohte.
Mein Freund war einmal zum Messeschluß mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. In einem Raum entdeckte er einen Karton, auf dem ein Telefon stand. Der Karton diente quasi als Tisch. Als er das Telefon herunternahm, um den Karton zusammenzuklappen, merkte er, daß der noch voller Zigaretten-Stangen war.
10000 Zigaretten!
Irgendeine unbekannte Sorte. Aber aus dem Westen!
Der Karton war vergessen worden – weil darauf eben immerdas Telefon gestanden hatte! Mein Freund zermarterte sich das Gehirn, ihm ging die berühmte Frage von Lenin »Was tun?« durch den Kopf. Mit einem Handkarren fuhr er den Karton schließlich an jenen Ort, wo das Altpapier und die Kartonagen gesammelt wurden. (Die jährlich zweimal anfallenden Messe-Sekundärrohstoffe waren ja ein einziger Segen für die papierarme DDR!) Dort wurde der Tabak-Schatz zwischengelagert und nach Feierabend abtransportiert. »Stoff« für viele Monate!
Das älteste Gewerbe der Welt hatte auch im sozialistischen Leipzig Hochkonjunktur. Da besuchten Frauen die Ausstellungskojen und gingen aus gutem Grund vom dortigen Chef reich beschenkt wieder ihrer Wege. Andere kamen jede Messe für ein paar Tage aus Kreisstädten angereist. Sie übernachteten im Quartier der Aussteller bei den sehr toleranten Vermietern. Eine attraktive Berlinerin feierte nach und nach in verschiedenen Ständen des Messehofs und zeigte Stefanie einmal ein dickes Geldbündel mit drei verschiedenen Währungen.
Währenddessen schoben sich die Besucher mit großen Augen durch die Gänge, drückten sich an den Scheiben der Ausstellungsvitrinen mit den Nahrungs- und Genußmitteln die Nase platt und träumten vom Besitz dieser Köstlichkeiten. Manche Messebesucher klopften zaghaft und bettelten um »ä baar Banahn fiern Ängkl« oder »Pampelmusen für den zuckerkranken Mann«, andere standen gleich im Stand, erzählten von ihren Schwierigkeiten in der DDR und wollten Geld für den Intershop.
Nach 18.00 Uhr, wenn die Ausstellungen ihre Pforten geschlossen hatten, wurde im Messehaus oft noch heftig gefeiert. Die Etagenmeister drückten sofort ein Auge zu, wenn ihnen etwas in die aufgehaltene Hand gedrückt wurde. Energisch sorgten sie allerdings dafür, daß die einheimischen Messebesucher die Etage schnell verließen. Gegenüber den Westdeutschen bekamen sie freundliche Nasenlöcher. Es konnte ja immer etwas für sie abfallen. Direkt in ihren Dederonbeutel, den sie nach Dienstschluß wohlgefüllt nach Hause trugen. Der hing auch bei den Fahrstuhlführern an einem Haken in der Kabine. Man kannte sich seit Jahren, und so gab es da mal eine Tafel Schokolade oder dort ein Päckchen Kaffee für die Liftdienste.
Die schönste Zeit für die Standhilfen war gegen Messeende. Die Geschäfte waren erledigt, die Chefs fuhren meist schon etwas eher nach Hause, und die Standhilfen hatten das Kommando. Wenn der Messechef abgereist war, lud meine Frau unsere Freunde zum Restetrinken ein. Was für herrliche Feten haben wir an diesem Stand gefeiert!
Leipzig lebte eigentlich immer von Messe zu Messe. »Vor der Messe nicht mehr!« und »Aber erst nach der Messe!« waren die Sätze in der Stadt. In allen Familien grassierte das Messefieber. Es gab kaum jemanden, der nicht damit infiziert war. Schließlich lief die älteste Messe der Welt auch zu DDR-Zeiten wie früher ab. Tausende Besucher wohnten privat, viele Menschen zogen in schlichte Gemächer, um
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