Maxwell 02 - Nur du kannst sie verstehen
Lebenden etwas zu erklären. Ich habe auch mal gelebt, ich weiß wovon ich rede.«
Der tote Mr. Vicenti sah Johnnys verständnislose Miene.
»Wir sind… anders«, sagte er. »Aber jetzt, wo du uns siehst und hörst, machst du uns frei. Du gibst uns etwas, was wir nicht haben.«
»Was ist das?«
»Das kann ich nicht erklären. Aber solange du an uns denkst, sind wir frei.«
»Mein Kopf muß sich nicht im Kreis drehen, oder?«
»Das klingt nach einem guten Trick. Kannst du das wirklich?«
»Nein.«
»Dann versuch es lieber nicht.«
»Ich bin nur ein bißchen besorgt, ob das nicht vielleicht Okkultismus ist.«
Es war seltsam, so etwas zu Mr. Vicenti zu sagen, mit seinen Nadelstreifenhosen und dem schmalen, schwarzen Schlips und der Tag für Tag frischen, gespenstischen Nelke. Oder zu Mrs. Liberty. Oder dem großen, bärtigen Schatten von William Stickers, der Karl Marx gewesen wäre, wäre Karl Marx nicht ein bißchen schneller gewesen.
»Du meine Güte, ich hoffe nicht, daß es Okkultismus ist«, sagte Mr. Vicenti. »Pater Kearny (1891–1949) würde das gar nicht gefallen.«
»Wer ist Pater Kearny?«
»Er hat gerade noch mit Mrs. Liberty getanzt. O je. Wir bringen alles ein wenig durcheinander, was?«
»Schickt ihn weg.«
Johnny drehte sich um.
Einer der Toten war immer noch auf dem Friedhofsgelände. Er stand direkt am Zaun und klammerte sich an die Gitterstäbe wie ein Sträfling im Gefängnis. Er sah nicht viel anders aus als Mr. Vicenti, außer daß er eine Brille aufhatte. Es war erstaunlich, daß das Glas nicht schmolz. Er hatte den durchdringendsten Blick, den Johnny je gesehen hatte. Er schien Johnnys linkes Ohr wütend anzustarren.
»Wer ist das?« fragte Johnny.
»Mr. Grimm«, sagte Mr. Vicenti, ohne sich umzudrehen.
»Aha. Ich habe nichts über ihn in der Zeitung finden können.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Mr. Vicenti mit gedämpfter Stimme. »Damals hat man solche Dinge in der Zeitung nicht erwähnt.«
»Geh weg, Junge. Du mischt dich in Sachen ein, die du nicht verstehst«, sagte Mr. Grimm. »Du bringst deine unsterbliche Seele in Gefahr. Und ihre. Geh fort, du ungezogener Junge.«
Johnny starrte ihn an. Dann drehte er sich wieder zur Straße um, zu den Tänzern und den Wissenschaftlern an der Telefonzelle. Etwas weiter entfernt stand Stanley Roundway in Shorts, die ihm bis zu den Knien reichten, und zeigte ein paar älteren Toten, wie man Fußball spielte. Auf seinen Fußballschuhen standen ein L und ein R.
Mr. Vicenti starrte ins Leere.
»Äh –« sagte Johnny.
»Da kann ich dir nicht helfen«, sagte Mr. Vicenti. »Damit mußt du selbst klarkommen.«
Irgendwie mußte er dann nach Hause gegangen sein. Er konnte sich nicht erinnern, aber er wachte in seinem Bett auf.
Johnny fragte sich, was die Toten wohl an Sonntagen taten. An Sonntagen erreichte Blackbury ungeahnte Werte auf der Langeweileskala.
Die meisten Leute taten, was man an Sonntagen eben so tat. Sie zogen feine Kleider an, setzten sich ins Auto und feierten eine Art Familiengottesdienst im Megasuperspar-Gartencenter vor der Stadt. Dort gab es eine Unzahl von Topfpflanzen, die man mit nach Hause nahm, damit sie dort in der Heizungsluft eingingen und man in der folgenden Woche wieder neue kaufen konnte.
Das Einkaufszentrum war geschlossen. Man konnte nicht mal irgendwo abhängen.
»Wenn man in so einer Stadt tot ist«, sagte Wobbler, als sie am Kanal entlangtrotteten, »merkt man es wahrscheinlich kaum, weil es sich kaum vom Leben unterscheidet.«
»Hat jemand von euch gestern nacht Radio gehört?« fragte Johnny.
Keiner. Er war eine bißchen erleichtert.
»Wenn ich mal erwachsen bin«, sagte Wobbler, »werde ich sofort von hier abhauen. Wartet’s bloß ab. Diese Stadt ist ein Ort, aus dem man kommt, nicht einer, in dem man bleibt.«
»Wohin willst du denn?« sagte Johnny.
»Da draußen liegt die ganze Welt!« sagte Wobbler. »Berge! Amerika! Australien! Millionen von Orten!«
»Du hast gestern erst erzählt, daß du wahrscheinlich einen Job bei deinem Onkel drüben im Industriegebiet kriegen wirst«, wandte Bigmac ein.
»Ja… schon… aber ich meine, die Welt wird trotzdem noch da sein, wenn ich mal Zeit habe abzuhauen, oder?« sagte Wobbler.
»
Ich
dachte, du würdest mal ein großer Computer-Crack werden«, sagte Yo-less.
»Das könnte ich. Tatsächlich. Wenn ich
wollte
.«
»Wenn ein Wunder geschieht und du in Mathe und Englisch durchkommst, meinst du«, sagte Bigmac.
»Ich bin eben
Weitere Kostenlose Bücher