Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
stimmt, ich kann in den nächsten fünf Minuten tot sein. Was ein guter Grund ist, die Liebe zu meiden, schließlich wäre es unhöflich, eine arme Frau zur Witwe zu machen.«
»Wenn du das so siehst, dann ist dir nicht zu helfen.«
»Setz dich her zu mir, Maya. Ein sterbender alter Mann und ein hübsches Mädchen werden jetzt zusammen atmen. Sofern du es schaffst, eine Weile den Mund zu halten, versteht sich.«
Das taten wir, bis es dunkel war. Und mein Pop leistete uns Gesellschaft.
Mit dem Tod meines Großvaters verlor ich meine Familie und jede Orientierung: Mein Vater lebte in der Luft, Susan wurde mit Alvy in den Irak geschickt, um Bomben aufzuspüren, und meine Nini saß da und weinte um ihren Mann. Nicht mal Hunde hatten wir. Susan hatte oft trächtige Hündinnen mitgebracht, die dann geblieben waren, bis die Welpen drei, vier Monate alt waren und sie mit dem Training beginnen konnte; es war immer ein Drama gewesen, wenn man sie zu sehr ins Herz schloss. Die kleinen Hunde wären mir ein Trost gewesen, als meine Familie zerbrach. Ohne Alvy und ohne Welpen war da niemand, mit dem ich meinen Kummer hätte teilen können.
Mein Vater hatte Affären mit anderen Frauen und hinterließ dabei beeindruckend viele Spuren, als bettelte er darum, dass Susan es herausfand. Mit seinen einundvierzig Jahren versuchte er wie dreißig auszusehen, gab ein Vermögen für seine Frisur und lässige Klamotten aus, stemmte Gewichte und legte sich auf die Sonnenbank. Er sah besser aus denn je, die grauen Haare an den Schläfen gaben ihm etwas Distinguiertes. Susan dagegen hatte genug davon,auf einen Ehemann zu warten, der nie vollständig landete, immer auf dem Sprung war oder am Handy flüsternd mit anderen Frauen sprach, und überließ sich dem Altersverschleiß, wurde dicker, zog sich an wie ein Mann, trug billige Brillen, die sie im Dutzend im Drogeriemarkt kaufte. Sie ergriff die Chance, in den Irak zu gehen, und floh aus ihrer demütigenden Ehe. Die Trennung war für beide eine Erleichterung.
Meine Großeltern hatten sich aufrichtig geliebt. Was 1976 zwischen der Exilchilenin, die auf gepackten Koffern saß, und dem amerikanischen Astronomen, der auf Vortragsreise in Toronto war, begonnen hatte, war auch drei Jahrzehnte später noch unverbraucht. Als mein Pop starb, wusste meine Nini nicht ein noch aus, sie war nicht mehr sie selbst. Außerdem hatte sie kein Geld, weil die Krankheit binnen weniger Monate ihr Erspartes aufgefressen hatte. Sie bekam zwar die Pension ihres Mannes, konnte damit aber das ruderlose Schlachtschiff, zu dem ihr Haus geworden war, nicht unterhalten. Von einem Tag auf den anderen und ohne mich vorzuwarnen, vermietete sie das Haus an einen indischen Geschäftsmann, der es mit Verwandten und mit Waren füllte, und zog selbst in ein Zimmer über der Garage meines Vaters. Sie trennte sich vom größten Teil ihrer Habe, behielt nur die Liebesbotschaften, die ihr Mann ihr in den Jahren des Zusammenseins hier und da auf Zettelchen hinterlassen hatte, nahm meine Zeichnungen mit, meine Gedichte und Zeugnisse und die Fotoalben, die von dem Glück zeugten, das sie mit Paul Ditson II erlebt hatte. Die Villa aufzugeben, in der sie so rundum geliebt worden war, war wie ein zweiter Tod. Für mich war es der Gnadenstoß, jetzt hatte ich alles verloren.
Meine Nini war völlig in ihrer Trauer verkapselt, wir lebten unter einem Dach, aber sie sah mich nicht. Noch ein Jahr zuvor hatte sie jugendlich gewirkt, war voller Elan, fröhlich und aufdringlich gewesen, mit wilden Haaren, Jesuslatschenund langen Röcken, war immer beschäftigt, half Gott und der Welt, sprühte vor Einfallsreichtum; jetzt war sie eine ältliche Witwe mit gebrochenem Herzen. Sie hielt die Urne mit der Asche ihres Mannes umklammert und sagte zu mir, das Herz sei wie Glas, es zerspringe manchmal lautlos, manchmal berste es klirrend in tausend Stücke. Ohne es selbst zu merken, entfernte sie Stück um Stück die Farben aus ihrer Garderobe und endete in strengem Schwarz, färbte sich das Haar nicht mehr und sah zehn Jahre älter aus. Sie rückte von ihren Freunden ab, selbst von Schneewittchen, der sie für keine Protestaktion gegen die Bush-Regierung interessieren konnte, obwohl die Möglichkeit lockte, verhaftet zu werden, was früher unwiderstehlich für sie gewesen war. Jetzt spielte sie Katz-und-Maus mit dem Tod.
Mein Vater überschlug, was meine Nini an Schlafmitteln nahm, wie oft sie mit ihrem VW irgendwo dagegen fuhr, den Gasherd nicht
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