Mayday
»Okay.«
Im Dispatcherbüro der Trans-United Airlines auf dem San Francisco International Airport herrschte die übliche Mittags-flaute. Die Morgenmaschinen waren längst unterwegs, und es war noch zu früh, die Flugpläne der Nachmittagsmaschinen aufzustellen. Die sechs Dispatcher lasen Zeitung, ihre Assistenten bemühten sich, beschäftigt zu wirken, und ihre jüngeren Mitarbeiter folgten ihrem Beispiel.
Ferro reckte sich gähnend. Nach 28 Jahren bei Trans-United hatte er erreicht, was er sich stets gewünscht hatte: Dienst von neun bis 17 Uhr am Pazifiktisch. Aber seitdem er beides hatte, langweilte er sich und hatte beinahe Sehnsucht nach der Nachtschicht und dem hektischeren Südamerikanisch …
Der Dispatcher legte seine Sport Illustrated weg und warf einen Blick auf die Liste mit den Flügen, die er zu überwachen hatte. Um diese Zeit war er lediglich für vier zuständig: Flug 243 aus Honolulu, 101 aus Melbourne, 377 nach Tahiti und 52 nach Tokio.
Das Wetter auf den Pazifikrouten war gut, und alle vier Maschinen hatten reichliche Treibstoffreserven. Nicht viel zu tun. An solchen Tagen schien die Zeit noch langsamer als sonst zu verstreichen.
Ferro schob seine Papiere zusammen, um sie Evans hinüberzubringen. Dabei fiel ihm auf, daß in einer Spalte eine Eintragung fehlte.
»Dennis«, fragte er seinen Assistenten, »hast du die neueste Meldung von Flug 52 vergessen?«
»Augenblick!« Der junge Mann stand auf, trat an die Theke, auf der ein ganzer Stapel Meldungen lag, und blätterte sie durch. Beim zweitenmal blätterte er etwas langsamer. Dann hob er den Kopf und rief: »Ich hab’ keine gekriegt. Sie ist überfällig. Soll ich sie anfordern?«
Das Wort »überfällig« gefiel Ferro nicht. In ihrem Beruf bedeutete überfällig etwas ganz anderes als verspätet. Er sah auf die Wanduhr. Der Treibstoff- und Positionsbericht hatte erst wenige Minuten Verspätung. Aber Ferro widerstrebte es, Evans etwas zu übergeben, das nicht ganz in Ordnung war. Vor 20 Jahren hatte er einmal eine Eintragung offengelassen und war zum Abendessen gegangen. Bei seiner Rückkehr hatte sein Büro einem Bienenstock geglichen, weil eine ihrer neuen Boeing 707 über dem Golf von Mexiko abgestürzt war. Damals hatte er die wahre Bedeutung des Euphemismus »überfällig« begriffen.
Ferro starrte die leere Spalte an. Sie gefiel ihm nicht, aber er war keineswegs übermäßig besorgt. »Hmmm … wir haben noch Zeit.« Er warf einen Blick auf die Besatzungsliste des Fluges 52. An erster Stelle stand Captain Alan Stuart. Ferro kannte ihn nur als Stimme am Telefon oder am Funkgerät; trotzdem hatte er das Gefühl, den Mann als zuverlässig und gewissenhaft zu kennen. Die übrigen Namen sagten ihm nichts, aber von Stuart wußte Ferro, daß er auf Ordnung sah. Er war davon überzeugt, daß der Captain das Versehen bald bemerken und die fehlende Meldung absetzen würde. Dispatcher, die Piloten belästigten – vor allem gewissenhafte Männer wie Stuart –, machten sich rasch unbeliebt, und Jack Ferro hatte nicht die Absicht, es sich mit den Piloten zu verderben. Das überließ er lieber Evans, der jetzt zum drittenmal die Meldungen durchblätterte.
»Wir bekommen bestimmt bald eine Meldung«, sagte Ferro beschwichtigend. »Und falls nicht …« Er überlegte. Die Anforderung sollte möglichst nicht von allen anderen Maschinen mitgehört werden. Sein Blick fiel auf die durch Glaswände abgetrennte Kabine mit dem Data-Link-Gerät.
»Wenn du bis zwölf Uhr nichts von ihnen hörst, tippst du eine Anforderung ins Data-Link.«
Evans nickte wortlos. Die Verständigung über Funk wäre einfacher gewesen, aber Ferro kam es stets auf Diskretion und Höflichkeit an. Wenn ein Captain dort oben schlief, konnte man ihn ruhig durch einen Funkspruch aufwecken! Evans schob die Meldungen beiseite und ging auf seinen Platz zurück.
Ferro starrte die leere Spalte erneut an und deckte sie dann mit einem Blatt zu. »Über dem Pazifik herrscht wunderbares Flugwetter!« rief er zu Evans hinüber. »Sie trinken Kaffee und denken an nichts Böses.«
Evans murmelte etwas vor sich hin, während er auf einem anderen Berichtsbogen Eintragungen machte.
Jack Ferro beobachtete die Uhr. Er konzentrierte sich auf den kreisenden Sekundenzeiger. Diese Warterei war nicht ungewohnt, aber sie machte ihn trotzdem nervös. Wie daheim, wenn seine Frau oder seine halbwüchsigen Kinder überfällig waren. Wenn sie sich verspätet hatten. Dann rückte die Uhr nicht langsam,
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