McCreadys Doppelspiel
möglichst normalen Atmosphäre zu befragen, gingen sie mit ihm in ein Restaurant in Georgetown, Washington. Der Mann überlegte es sich anders, entkam durch das Fenster der Herrentoilette, ging zu Fuß zur sowjetischen Botschaft und stellte sich. Es half ihm nichts; er wurde nach Moskau zurückgeflogen, brutal verhört und erschossen.
Abgesehen von einer möglichen Neigung, Hand an sich zu legen, muß der Überläufer auch vor seinen früheren Herren geschützt werden. Die Ranch bot diese Art von Sicherheit. Die UdSSR und insbesondere der KGB sind notorisch unversöhnlich gegenüber jenen, die sie als Verräter ansehen, und setzen in der Regel alles daran, solche Leute aufzuspüren und sie nach Möglichkeit zu liquidieren. Je höher der Rang des Überläufers, um so schwerwiegender der Verrat, und als die schlimmsten Verräter gelten ranghohe KGB-Offiziere. Die KGB-Offiziere sind nämlich die Creme de la Creme, die in einem Land, wo die meisten Menschen hungern und frieren, alle erdenklichen Privilegien und jeden erdenklichen Luxus genießen. Diesen Lebensstil, von dem normale Sowjetbürger nur träumen können, zu verschmähen, zeugt von einer Undankbarkeit, die an sich schon mit dem Tod bestraft werden muß.
Der wichtigste Komplikationsfaktor ist der Gemütszustand des Überläufers selbst. Wenn sie sich glücklich in den Westen abgesetzt haben und der Adrenalinspiegel wieder auf normale Werte sinkt, setzt bei vielen eine Phase des Nachdenkens ein. Die volle Tragweite ihrer Handlungsweise wird ihnen bewußt, und jetzt erst wird ihnen klar, daß sie ihre Frau, ihre Familie, ihre Freunde, ihr Vaterland nie wiedersehen werden. Depressionen sind manchmal die Folge, die dem >Down< nach dem >High< eines Drogensüchtigen ähneln.
Um dem vorzubeugen, beginnt man die Befragungen oft mit einer geruhsamen Bestandsaufnahme des bisherigen Lebens des Überläufers, einem vollständigen Lebenslauf von der Geburt und der Kindheit bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Erinnerungen an die Kindheit, die Beschreibung der Mutter und des Vaters, der Schulfreunde, des Schlittschuhlaufens im Winter, der Spaziergänge auf dem Land im Sommer - das alles verstärkt nicht etwa das Heimweh, sondern wirkt im allgemeinen beruhigend. Und alles, jedes kleinste Detail und jede Geste, wird notiert.
Von großem Interesse sind stets auch die Beweggründe des Überläufers. Warum haben Sie sich entschlossen, zu uns zu kommen? (Das Wort >überlaufen< wird nie verwendet. Es klingt nach Verrat und Untreue, statt nach einer vernünftigen Entscheidung aufgrund eines Gesinnungswechsels.)
Manchmal macht der Überläufer unwahre Angaben über seine Beweggründe. So behauptet er vielleicht, er sei abgrundtief enttäuscht gewesen von der Korruption, dem Zynismus und dem Nepotismus des Systems, dessen Diener er gewesen ist und das er hinter sich gelassen hat. Bei vielen ist dies der wahre Grund; es ist sogar weitaus der häufigste Grund.
Aber manchmal sieht die Wahrheit anders aus. Oft wird man bei den Geheimdiensten des Gastgeberlands recht gut wissen, warum der Mann tatsächlich übergelaufen ist. Trotzdem wird man sich seine Erklärungen aufmerksam und verständnisvoll anhören. Und man wird sich alles notieren. Auch wenn der Mann aus Eitelkeit falsche Beweggründe angibt, bedeutet das nicht unbedingt, daß er auch dann lügen wird, wenn es um Staatsgeheimnisse geht. Oder vielleicht doch?
Andere lügen aus Prahlsucht, übertreiben bei der Darstellung ihrer Bedeutung in ihrem früheren Leben, um ihre Gastgeber zu beeindrucken. Aber es wird alles geprüft; früher oder später kennen die Gastgeber den wahren Beweggrund, die wahre Bedeutung des Mannes. Zunächst aber hört man ihm sehr verständnisvoll zu. Das eigentliche Kreuzverhör kommt später, genau wie vor Gericht.
Wenn dann schließlich die Rede auf Geheiminformationen kommt, werden dem Überläufer Fallen gestellt. Er muß viele, viele Fragen beantworten, deren Antworten die Vernehmungsbeamten bereits kennen. Und wenn sie sie nicht kennen, finden die Analytiker sie durch unermüdliches Vergleichen und Überprüfen der Bandaufzeichnungen in tage- und nächtelanger Arbeit bald heraus. Schließlich hat es schon zahlreiche Überläufer gegeben, und die westlichen Geheimdienste besitzen riesige Mengen von Informationen über den KGB, den GRU, die sowjetische Armee, Marine und Luftwaffe und über die politische Führung.
Wenn sich herausstellt, daß der Überläufer falsche Aussagen zu Dingen macht,
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