McDermid, Val
seine
Familie für normal, weil er keine andere Erfahrung hat, an der er sie messen
kann. Aber als er in die Schule kam, stellte er fest, dass die Familie, zu der
er gehörte, anders., war. Und nicht nur wegen Kathys Hautfarbe.
Merkwürdigerweise schienen die anderen Kinder diesen Unterschied fast nicht
wahrzunehmen. Er erinnerte sich an eine Gelegenheit, als Julia ihn in der
ersten Klasse einmal von der Schule abgeholt hatte. Normalerweise erledigte
Kathy das, weil sie ihren Website-Service von zu Hause aus betrieb, aber sie
hatte wegen einer Besprechung in die Stadt fahren müssen. Also war Julia früher
von der Arbeit nach Haus gegangen, um ihn abzuholen. Sie half ihm gerade, seine
Gummistiefel anzuziehen, als Ben Rogers sagte: »Wer bist du denn?« Emma White,
die in ihrer Straße wohnte, hatte erklärt: »Das ist Seths Mutter.«
Ben hatte die Stirn gerunzelt
und erwidert: »Nein, das stimmt nicht. Ich kenne Seths Mum, das ist sie nicht.«
»Das ist Seths andere Mutter«,
hatte Emma beharrt. Ben nahm das ganz locker hin und ging direkt zu einem anderen
Thema über. So war es geblieben, es war etwas ganz Alltägliches, so war die
Welt eben, es war nicht bemerkenswert - bis Seth neun oder zehn war und seine
Leidenschaft für Fußball ihn in direkten Kontakt mit Kindern gebracht hatte,
die nicht mit dem Gedanken aufgewachsen waren, dass zwei Mütter einfach zur
Bandbreite des Familienlebens gehörten. Ein oder zwei der großen Jungen hatten
versucht, Seths ungewöhnliche Familiensituation als Mittel gegen ihn zu
nutzen. Aber bald merkten sie, dass sie sich den Falschen ausgesucht hatten.
Seth schien sich in einer Blase der Unverwundbarkeit zu bewegen. Er ließ
Beleidigungen mit erstaunter Gutmütigkeit von sich abprallen. Und er hatte zu
viele Freunde, als dass sie mit handgreiflicher Gewalt gegen ihn vorgehen
konnten. Von seinem Selbstbewusstsein verwirrt, ließen die Schläger von ihm ab
und suchten sich ein leichteres Opfer. Selbst dann noch durchkreuzte Seth ihre
Pläne. Er hatte eine Art, es die Verantwortlichen wissen zu lassen, wenn sich
unschöne Dinge taten, ohne dass er jemals als Petze gesehen wurde. Er war ein
guter Freund, so schien es, und es war sinnlos, ihn zum Feind zu haben.
So war er ohne weitere
Zwischenfälle ins Alter eines Jugendlichen vorgerückt, nett, beliebt,
freimütig, und sein einziges Problem war anscheinend die Angst zu versagen.
Julia und Kathy warteten nervös, ob ein weiteres Problem auf ihn zukäme. Das
taten sie vermutlich bereits seit dem Tag, als Julia die künstliche Befruchtung
vornehmen ließ. Es hatte jede Menge warnende Stimmen und düstere Vorahnungen
gegeben. Aber Seth war ein pflegeleichtes Baby. Einmal hatte er eine Kolik.
Nur einmal. Unglaublicherweise hatte er schon mit sieben Wochen angefangen
durchzuschlafen. Er bekam keine Kinderkrankheiten außer hin und wieder eine
Erkältung. Er war kein teuflisch schwieriges Kleinkind, zum Teil deshalb, weil
Kathy ihn, als er zum ersten Mal einen Wutanfall in der Öffentlichkeit probierte,
zwischen den Supermarktregalen stehen ließ, wo er mit rotem Kopf herumbrüllte.
Sie beobachtete ihn vom Ende des Müsliregals aus, aber das wusste er damals
nicht. Der Schrecken, verlassen zu werden, hatte ausgereicht, ihn von seinen
Wutausbrüchen zu heilen. Manchmal quengelte er, wie es alle taten, aber weder
Kathy noch Julia gingen darauf in der von ihm erwünschten Weise ein, also
hatte er auch das zum größten Teil aufgegeben.
Der Charakterzug, der ihn
davor rettete, zu gut für diese Welt zu sein, war sein ständiges Geschwatze. Er
begann meistens schon damit, sobald er morgens die Augen aufschlug, und hörte
erst auf, wenn er sie nach dem Zubettgehen wieder schloss. Seth war so absolut
fasziniert von der Welt und seinem Platz in ihr, dass er überzeugt war,
jedermann wünsche sich einen minutiösen Bericht über alles, was er tat und dachte,
oder auch eine bemerkenswert ausführliche Wiedergabe der Handlung der letzten
DVD, die er gesehen hatte, je trivialer, desto besser. Gelegentlich bemerkte
er, allerdings erst mit Verspätung, dass sein Publikum mit den Augen rollte
oder dass das Gesicht seines Gegenübers starr wurde, als warte es darauf, dass
er endlich zur Sache kam. Das löste aber bei ihm nicht einmal einen Funken
Verlegenheit aus. Er machte weiter bis zum bitteren Ende, selbst wenn Kathy
schon den Kopf auf den Küchentisch legte und leise stöhnte. An und für sich war
das kein schlimmer Charakterfehler. Seine Mütter
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